Kapitel 5

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Hallo, mein Name ist Layla Westhold, ist Simon da?« Ich nahm ihre Stimme ganz unbewusst wahr, als wäre sie nur in meinem Kopf. Doch da war noch eine andere Stimme, eine tiefere. Ich stellte die Musik ab, Laylas Stimme, falls sie es überhaupt war, hatte ich nur ganz kurz zwischen dem Übergang von einem Lied zum nächsten wahrgenommen.

   »Klar, ich hol ihn kurz. Wartest du?« Dad war zu höflich um sie einfach an der Tür stehen zu lassen und zu paranoid um sie ins Haus zu lassen. Blöderweise hatte ich beide Eigenschaften von ihm geerbt, die Offenheit meiner Mutter wurde mir leider nicht zugeschrieben. Gleich danach wurde meine Zimmertür aufgedrückt, mein Spiel hatte ich bereits ausgeschaltet. »Hey, Bursche.« Dad war nicht der Typ für niedliche Spitznamen, wofür ich verdammt Dankbar bin, allerdings stand er auch nicht sonderlich auf meinen Vornamen, was nun wirklich ziemlich bizarr war. Immerhin war er derjenige gewesen, der mir diesen Namen verpasst hatte. »Da wartet ein Mädchen auf dich.«

   Ich erhob mich von meinem Sessel, griff nach meiner Jeans und zog sie mir an während ich Dad aus dem Zimmer folgte. Layla saß auf den Stufen zu unserem kleinen Häuschen und hielt den Blick gesenkt, ihre kurzen, wirren Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden.

   »Dad, ich geh raus!«, rief ich in Richtung Küche, zog meine Schuhe an und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Layla hatte den Blick gehoben und starrte einen kurzen Moment zwischen mir und der Tür hin und her. »Hey, ich hatte dich heute nicht erwartet.«, gestand ich und setzte mich neben sie auf die, von der Sonne erwärmten, Treppenstufen.

   »Tut mir leid, ich musste von zuhause weg und dacht mir wir könnten meine Mum beziehungsweise mein Kaninchen besuchen.«

   Ich sah sie einen Moment zu lange an, denn mein Gehirn hörte auf zu arbeiten und ich verlor mir vollkommen in ihren Augen. »Klar, liebend gerne.«

   Für einen kurzen Moment zierte ein Lächeln ihre Lippen, doch es verschwand genauso schnell wie es aufgetaucht war. So nahe war ich ihr vermutlich noch nie gewesen. Aus dieser Nähe konnte ich sogar erkennen, dass sich in ihren Augen mehr Farben wiederspiegelten als das helle Blau. Um ihre Pupille rankte ein schmaler, brauner Ring und ich hatte das Gefühl mich vollkommen in ihr zu verlieren. Mit einem Blinzeln wandte ich mich ab und sah auf meine Hände herunter. Aus den Augenwinkeln sah ich wie Layla ihre Hände an ihrer Hose abwischte und sich aufrichtete, dann reichte sie mir ihre Hand. Ich ergriff diese und ließ mir von ihr aufhelfen, auch wenn ich mich problemlos auch ohne sie hätte aufrichten können. Wir spazierten nebeneinander die Straße entlang, schweigend, auf die Füße starrend. Sonntags waren Busse in unserer Gegend ein so seltenes Phänomenen wie Tierregen. Im Grunde also gab es zwar eine gute Erklärung dafür, den Fahrplan in dem Falle, doch die Leute reagierten genauso erschrocken darauf wie bei vom Himmel fallenden Tierleichen.

   Und grade weil die Busse so selten und merkwürdig in unserer Gegend waren, entschieden wir uns dazu, den Weg lieber zu Fuß zurückzulegen. »Wohnst du alleine mit deinem Vater?« Ich zuckte zusammen. Wir hatten die meiste gemeinsame Zeit eher schweigend verbracht. Sie zeichnend und ich ihr zusehend. Ich hatte niemals erwartet, dass Layla Fragen über meine Familie stellen würde.

   »Nein, Mum und Dad arbeiten in verschiedenen Jobs zu verschiedenen Zeiten. Es kommt selten vor, dass sie beide gleichzeitig zu Hause sind.«, beantwortete ich ihre Frage und sah sie einen kurzen Moment an, eher ich wieder zu Boden blickte. »Lebst du bei deinem Dad?«

   Ich konnte ihren Blick nicht deuten, ihr Körper schien sich zu verspannen, doch ihre Augen schienen sich auf etwas weit entferntes zu fixieren und ein schmales Lächeln klammerte sich an ihre Lippen. Ich konnte nicht einmal deuten, ob sie wirklich lächelte oder bloß versuchte irgendwelchen Kummer zu verbergen. »Ja, mein Vater und ich leben alleine. Ist ziemlich komisch, wenn man eigentlich eine große Familie gewohnt war.«

   »Hast du Geschwister?«, fragte ich.

   »Einen älteren Bruder, er arbeitet im Ausland.«, sie seufzte und band ihren Zopf neu. »Macht so ein „Work and Travel"-Ding.«

   »Das wollte ich früher auch machen.«

   Sie sah zu mir und in ihren Augen blitzte etwas aus. Belustigung? Ehrgeiz? Bewunderung? Ich bezweifelte, dass Layla jemand war, der andere bewunderte. Sie machte einen ziemlich eigenständigen Eindruck, weder von anderen inspiriert noch runtergemacht. »Hat sich das denn geändert?«

   Ich brauchte einen Moment länger um zu begreifen, was sie meinte. »Die Realität ist wohl dazwischen gekommen.« Ich zuckte mit den Schultern und wollte das Thema mit meiner Antwort beenden, doch Layla schien sich brennend für Talente und Kindheitswünsche zu interessieren.

   »Wusstest du, dass so ziemlich jeder während seiner Schullaufbahn seine Kindheitswünsche verwirft?«, fragte sie mich und musterte mein Profil.

   »Was wolltest du denn als Kind werden?«

   »Reich.«

   Ein Schnauben entfuhr mir. »Das kann man doch gar nicht werden.«

   »Rein theoretisch ja schon.«, erwiderte sie und runzelt die Stirn. »Immerhin heißt es: Ich bin reich. So lange reich mit dem Verb sein in Verbindung steht, kann ich es auch werden.«

   »Rein theoretisch hast du Recht.«, gestand ich. »Allerdings wünschen sich die Meisten eher wie sie ihre Millionen-Beträge erreichen können.«

   Sie zuckte mit den Schultern. Vermutlich hatte sie genauso wenig Lust über sich Dinge preiszugeben wie ich über mich. Geheimnisse anderer waren immer so viel spannender als die eigenen preisgeben zu müssen. Selbst wenn sie von solch banalen Dingen wie Kindheitswünschen handelten. »Als Kind wollte ich einfach nur so viel Geld haben um überall zu sein außer hier.«, murmelte Layla zur Antwort und sah auf den Gehweg. Nach einem scheinbar unendlich langen Spaziergang bis zu dem Lavendelfeld taten meine Füße so sehr weh, dass ich nur noch sitzen oder schlafen wollte. Der Gedanke an den Rückweg war unerträglich.

   Als wir am Rand zu dem lilafarbigen Feld standen, hüpfte Layla plötzlich los wie ein kleines Mädchen. Ich musste grinsen als sie sich im Kreis drehte und mich zu sich winkte. Sie wirkte so gelassen, wie ein komplett anderer Mensch. Das Mädchen, welches vorhin noch auf der Treppe vor meiner Haustür gesessen hatte, war verschwunden und stattdessen stand mir wieder die Layla gegenüber, die ich hier, zwischen den Blüten des Lavendels kennen gelernt hatte.

   Ich holte Layla ein und zusammen schlenderten wir weiter bis zu dem Kreuz, in dessen Nähe wir uns schließlich nieder ließen. »Wieso wolltest du denn immer weg von zu Hause?« Ihre Worte, sie wolle überall sein außer hier, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.

   »Wer will denn nicht weg von Zuhause um die Welt sehen zu können?« Ihre Gegenfrage brachte mich ins Grübeln.

   »Gut gekontert, aber dafür muss man nicht unbedingt reich sein.«, erwiderte ich. Ich wollte gar nicht auf ihre Frage eingehen. »Ist es wegen deiner Mutter?« Wir hatten das Kreuz erreicht und standen nun unmittelbar davor.

   »Meine Mum starb nicht lange her.«

   »Es tut mir leid.«

   »Wenn es Jahre zurück liegen würde, täte es dir also nicht leid?« Es sollte belustigt klingen, doch ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

   »Ich... So... Das meine ich nicht so.«

   Sie seufzte. »Ich weiß.«

   »Ich versuche dich zu verstehen.«, gestand ich. Ihr Blick suchte nach meinen Augen, ich wusste, dass ich weiter sprechen musste, noch irgendetwas dazu sagen. »Und es fällt mir unheimlich schwer, Menschen zu verstehen, aber ich bemühe mich bei dir.«

   »Hoffnungslos.«, sagte sie darauf.

   »Was?« Layla sah von mir weg. Sie sah in Richtung des Kreuzes, doch ich hatte das Gefühl, dass sie es nicht wirklich wahrnahm.

   »Mich verstehen zu wollen.«, beantwortete sie meine Frage. »Ich bin mir selbst ein Rätsel, wie soll mich dann jemand anderes verstehen?«

   Darauf sagte keiner von uns mehr viel. Wir lagen einfach nebeneinander im Lavendel und sahen zusammen in den Himmel, der sich langsam orange färbte bis sich das Licht hinter den Bäumen verlor. 

Wo der Lavendel blühtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt