Kapitel 12

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Kurz nach drei rief ich meine Mutter an. Layla und ich saßen noch immer auf dem Lavendelfeld, eigentlich wollte sie noch nach Hause und sich etwas, wie sie behauptete, angemesseneres anziehen, doch irgendwie war die Zeit verstrichen. Größtenteils lagen wir im trockenem Gras und lasen, sie eine ziemlich abgegriffene Ausgabe von Harry Potter und der Orden des Phönix, während ich durch Der Pilot blätterte. Wir lagen nebeneinander, unsere Köpfe berührten sich fast und ich konnte hören, wie sie die Seiten umblätterte.

Mum fand es toll, endlich die geheimnisvolle Fremde kennen zu lernen. Sie war sogar so entzückt, dass sie gleich wissen wollte, was meine Freundin gerne essen wollte.

»Mum, sie ist nicht – «

»Simon, was soll ich kochen? Na los, schnell! Vielleicht muss ich ja noch Einkaufen fahren.« Mum hasste es zu kochen, jedenfalls für Leute die sie nicht kannte. Paul hatte sie während unserer Kindheit jedes Mal wenn wir uns sehen, nur Kartoffelpüree gemacht, weil er damals so versessen darauf war.

Ich drehte mein Kopf in ihre Richtung und betrachtete sie. Layla, mit ihren kurzen, blonden Haaren und den etwas zu großen Klamotten. Layla war auf ihre eigene Art und Weise einzigartig, trug Armbänder um die Handgelenke und Hosen, die auf den Knien aufgerissen waren. Ein Strohhalm hing in ihren Haaren. »Meine Mutter will wissen, was du gerne essen würdest.«

Sie sah mich einen Moment verblüfft an, dann sah sie wieder in ihr Buch und antwortete gelassen: »Mir egal. Ich esse alles.« Ich gab die Information an meine Mutter weiter, wendete meine Augen aber nicht von ihr. Sie bemerkte meinen Blick, zwei, drei Mal sah sie kurz in meine Richtung, bevor sie sich wieder vollkommen auf das Buch fixierte.

»Eine Idee?«, fragte Mum mich. Ich verlor mich selbst auf diesem Feld, Mum wiederholte ihre Frage etwas fordernder.

»Mum, ich habe keine Ahnung, du bist eine Meisterköchin, dir fällt was ein.« Mit diesen Worten beendete ich das Gespräch. Später würde meine Mutter mich darauf ansprechen, ich solle Telefonate nicht einfach so beenden, vor allem nicht, wenn ich mit ihr telefonierte, doch für den Moment wollte ich einfach nur noch Layla beim Lesen zu sehen.

»Du starrst mich an.«, bemerkte sie nach einer Weile.

»Was hörst du für Musik?«, fragte ich stattdessen. Sie kniff die Augen zusammen und schien zu überlegen, was mein Themawechsel zu bedeuten hatte.

»Ich höre keine Musik.«, gestand sie schließlich und drehte ihr Gesicht wieder zum Buch, doch sie las nicht, ihre Lider bewegten sich nicht. Sie schien nur auf eine Stelle zu starren.

»Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hast du Musik gehört.«

»Der alte Walkman meines Bruders?« Ihre Stimme klang spöttisch. Ich versuchte verzweifelt in ihrem Gesicht zu lesen, zu erkennen, was los war, wie Paul es jedes Mal bei Leuten tat. Dafür dass Paul ein totaler Streber und Nerd war, konnte er verdammt gut mit Menschen umgehen, eine Eigenschaft um die ich ihn ziemlich beneidete. Es fiel mir nicht ein was ich sagen könnte, doch Layla setzte sich auf und stopfte Harry Potter ziemlich halb herzig in ihren Rucksack. Ich sah zu ihren Händen, sie gab sich trotzdem Mühe, dass die Seiten nicht noch mehr verknitterten, als sie es schon waren. Dann rappelte sie sich auf und sah zu mir hinunter. Wir schwiegen noch immer.

Sollten Unterhaltungen nicht ganz leicht verlaufen? Mein Vater pflegte immer zu sagen, wenn man erst mehr Zeit mit jemandem verbracht hat, fließen die Gesprächsthemen bloß so aus einem raus. Aber Layla und ich schwiegen die meiste Zeit über. Es war so, als würden wir alleine in unseren Zimmern hocken, nur das wir zu zwei waren. Kann man zu zweit allein sein?

»Sollten wir nicht los?«, fragte sie schließlich, als ich noch immer wie ein Idiot zu ihr starrte. Ihre Stimme klang etwas bissig, als hätte ich sie wütend gemacht. Ich schluckte.

»Essen gibt es nicht vor fünf, dann kommt mein Vater nach Hause, wir müssen nicht jetzt gleich los, wenn du nicht magst.«

»Ich müsste direkt nach dem Essen los, ich hoffe das wirkt nicht allzu unhöflich, aber mein Vater mag es nicht sonderlich, wenn ich lange weg bin.«

»Okay.« Es war wohl mehr, als sie jemals von sich zu Hause erzählt hatte. Ich wollte mehr von ihr wissen, doch scheinbar jede meiner Fragen, die sie betrafen, ließen in ihr die Alarmglocken schrillen.

»Ja.« Erneutes Schweigen. Ich sehnte mich nach dem Tag, an dem wir einfach Arm und Arm auf dem Lavendelfeld gelegen hatten und ich ihr vorgelesen hatte. Ich wünschte, ich könnte ihr jetzt im Moment einfach nur vorlesen.

»Lass uns gehen.«, murmelte ich. Wir standen uns gegenüber. So nah und doch schienen mehrere Kilometer zwischen uns zu liegen.

»Okay.«, wisperte sie, doch wir bewegten uns keinen Millimeter.

»Willst du zum Essen kommen?«, fragte ich erneut. Sie machte mich nervös, ihre Art, ihr Auftreten. Layla war so unberechenbar, doch ich wollte jede Sekunde mit ihr verbringen. Als würde ich freiwillig ohne Schutzausrüstung Haie aus der Hand füttern wollen. Wobei mir der Vergleich von Layla mit einem Hai, doch etwas zu gewagt war. Layla war kein Hai, sie wirkte eher verschreckt. Haie waren nicht verschreckt.

»Ich bin kein Fan davon, neuen Leuten zu begegnen.«

»Du wolltest mich kennenlernen.«

»Du bist mir auch wie ein Idiot auf das Feld gefolgt.« Wir lachten beide leise, als hätten wir Angst, jemand könnte diesen Moment von uns stehlen. Ich hatte das Gefühl, dass der Platz zwischen uns geringer wurde, es waren nur noch die Zentimeter zwischen uns, die auch wirklich vorhanden waren.

»Ich habe mich ein bisschen wie ein Detektiv gefühlt. Oder wie ein Fährtenleser.« Wir sahen einander in die Augen, es wäre so leicht sie zu küssen. Ich schluckte, gab es dafür Anzeichen? »Aber wieso ich?«

Die Frage schien sie zu verwirren, als wüsste sie selbst keine Antwort darauf. »Ich wollte dich wohl einfach fragen, ob du mir mal Der Herr der Ringe ausleihen kannst.«

Sie brachte mich zum Lachen und der Drang, die letzten Zentimeter zu durchbrechen wurde stärker. Ich wollte ihr Näher sein, näher als jetzt, näher als wir es beim Lesen waren. Wir sahen uns stumm in die Augen. Doch die Stille war nicht geladen wie vor wenigen Minuten noch, sie war ruhig, harmonisch. Diese Stille war einfach richtig. Layla zitterte, ich hatte gar nicht bemerkt wie nahe wir uns eigentlich waren. Ihre Lippen bewegten sich, als würden ihre Zähne dahinter klappern. Ich konnte jede Bewegung in ihrem Gesicht ausmachen.

»Simon, du willst das nicht tun.«, sie klang aufrichtig, Kummer spiegelte sich in ihren Augen. Sie glänzten verräterisch. Ich nickte schwerfällig und krächzte ein leises „Doch".

Layla schüttelte bloß wieder den Kopf. »Ich bin nicht so, wie du denkst.« Doch es war egal, alles war egal. Bevor sie noch etwas sagen konnte, lehnte ich mich vor und presste meine Lippen auf ihren Mund. Sie wich nicht zurück, sie wirkte unsicher. Ich hatte Angst sie Näher zu mir zu ziehen, Layla reagierte so unterschiedlich auf Berührungen. Doch dieses Mal, in diesem Moment als unsere Lippen sich endlich berührten, da klammerte sie sich mit ihrer rechten Hand an mein Shirt, als hätte sie Angst zu fallen. Als sei ich ein Rettungsanker.

Wo der Lavendel blühtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt