Der Arzt kam kurz nach meinem Gespräch mit Kevin. Noch gekleidet in seiner Operations Kleidung ließ er mich wissen, dass Willows Zustand stabil ist, aber sie sehr schwach ist und sie zur Überwachung bis morgen bleiben muss. Trotzdem hat er mich zu ihr gelassen. Ich weiß nicht, wieso ich sie sehen wollte. Ich gebe Kevin die Schuld, er hat mich gedrängt. Und jetzt steh ich schon seit 15 Minuten vor ihrem Bett und beobachte ihre flache Atmung, wie sich ihre Brust kaum merklich hebt und senkt. Hätte der Arzt nicht klar gesagt, dass sie über den Berg ist, hätte ich mich nicht davon überzeugen können dass sie es schafft. Ich seufze resigniert und nehme Platz auf dem Stuhl, der direkt neben ihrem Bett aufgestellt ist. Glücklicherweise muss sie sich ihr Zimmer nicht teilen, also kann ich sie mir so genau ansehen, wie ich möchte. Vorsicht greife ich eine ihrer blonden Haarsträhnen und zwirble sie zwischen meinen Fingern, während ihr zerknautschtes Gesicht betrachtete. Fragen. Fragen über Fragen nehmen meinen gesamten Verstand ein, bis ich überzeugt bin heute Abend mit Kopfschmerzen schlafen gehen zu müssen. Eine Frage stört mich dabei ganz besonders.
Wenn Willow heute Abend gestorben wäre, wäre ich zufrieden gewesen?Meine Stirn zieht sich unwillkürlich zusammen und mein Herzschlag beschleunigt sich.
"Das ist sie also."
Als ich Morax im Eingang stehen sehe erschrecke ich und lasse augenblicklich Willows Haarsträhne fallen. Unordentlich landet sie auf ihrem Gesicht.
"Morax.", meine Stimme klingt überrascht, denn das bin ich auch. Es kommt nicht oft vor, dass Morax uns auf Erde besucht, denn seine 100 Seelen hat er vor Jahrtausenden schon eingesammelt, also hat er keinen Grund mehr hierzukommen. Ich erinnere mich, dass er früher ab und zu mal vorbei kam, um uns bei unserer Arbeit zu beobachten. Aber das geschah selten.
Deswegen ist es etwas merkwürdig ihn jetzt hier zu sehen, in seinem menschlichem Aufzug. Ein schwarzes, eng anliegendes Hemd betont die Muskeln seines stahlharten Körpers. Nur durch die zwei ungeknöpften Knöpfe am Kragen kann man seine Statur unter dem Stoff erahnen. Eine schlichte, schwarze Jeans, mit ebenso schlichtem, schwarzen Schuhen runden sein Gesamtbild ab und durch mit seine schneeweißen Haare wirkt er einschüchternd.
Ohne Begrüßung oder mir zu antworten tritt er langsam ins Zimmer, bis er irgendwann neben mir zum Stehen kommt und sieht auf Willow herab. Ich spüre, wie mein Körper beginnt sich zu verspannen, als Morax Willow so nah kommt. Irgendwie stört es mich, dass Morax meine Seele so frei sehen kann stört mich. Ich fühle mich entblößt, als hätte ich etwas preisgegeben, das nur mir gehört.
"Sie ist schön.", meint er leise und beäugt mich mit einem leichten Seitenblick. Ich erwidere nichts darauf. Möglicherweise ist es ein Test. "Hast du deswegen Probleme abzuliefern?"
Empört klappt mein Mund auf.
"Was?! Nein!"
"Ruhig", er hebt mahnend einen Finger. "In diesem Gebäude wird nicht geschrien."
Ich presse meine Lippen zusammen. Es wundert mich bis heute, wieso Morax Wert auf die Regeln der Menschen legt. Immerhin könnte er sie einfach töten, wenn ihm danach wäre. Stattdessen besteht er darauf, dass wir uns an ihre Sitten und Gebräuche anpassen und diese respektieren. Kann ich nicht nachvollziehen und wenn er uns nicht gedroht hätte uns umzubringen, wenn er herausfindet, dass wir es nicht tun, hätte ich seine Regel nicht ernst genommen.
"Ist sie das gleiche Mädchen, das ihr gerettet habt?"
Ich nicke stumm. Ich frage gar nicht erst nach, woher er das weiß. Morax weiß einfach alles was es zu wissen gibt. So wie man vor Sam keine Geheimnisse haben kann, kann man sie auch nicht vor Morax haben und das schnell begreifen hat mich vor viel Ärger bewahrt.
Er erwidert mein Nicken knapp und fährt plötzlich über Willows Kopf, bringt ihre Haare durcheinander. Mein Mund klappt auf und es juckt mich in den Fingern etwas zu sagen. Aber was würde ich sagen? Was könnte ich sagen? Und was für eine Rechtfertigung habe ich überhaupt, wenn ich etwas sage? Wieso zum Teufel stört mich seine Hand in Willows Nähe so sehr? Er soll endlich aufhören sie anzugreifen!
"Dantalion", spricht er und ich schlucke. "Möchtest du eine andere Seele?"
Ich glaube mein Herz hat aufgehört zu schlagen und das Rauschen in meinen Ohren ist auch verschwunden. Ich starre Morax ungläubig an.
"W-was?"
"Eine andere Seele.", wiederholt er "Ganz offensichtlich hast du Schwierigkeiten mit dieser hier. Ein Dämon mit deinem Talent hätte die Seele bis zum jetzigen Zeitpunkt zumindest etwas in seine gewünschte Form gebracht. Aber da dir das noch nicht gelungen ist frage ich mich, ob die Seele nicht doch etwas zu schwierig ist."
Ich zögere. Auf so eine Chance habe ich doch gewartet! Wenn ich sein Angebot jetzt annehme, wäre ich meinem Traum der nächste legendäre Seelenräuber zu werden einen großen Schritt näher. Oder zumindest näher als jetzt, denn gerade könnte ich nicht noch weiter davon entfernt sein. Willow hasst mich vielleicht nicht. Aber wir sind keine Freunde und ich glaube auch nicht, dass sie mich besonders mag, selbst wenn sie mich nicht direkt hasst. Ich stehe also noch ganz am Anfang meiner Misson. Es wäre nicht schlecht sich mit einer einfacheren Seele einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. Natürlich garantiert mir niemand, dass die nächste Seele nicht genauso schwer, wenn nicht sogar schwerer einzusammeln sein wird als Willows. Auch wenn ich mir gerade nicht vorstellen kann, dass es eine anstrengendere Seele gibt als Willows. All meine Seelen zusammengerechnet kann ich mit Sicherheit sagen, dass es keine Seele gibt, die mich so gefordert hat und so unglaublich nervenaufreibend ist, wie Willow.
Aber... In all den Jahrtausenden in der die Seelenjagd schon stattfindet, habe ich noch nie gehört, dass ein Seelenräuber seine Seele gewechselt hat...
Mein instinkt schreit mich gerade zu ja zu sagen, einzuwilligen und eine Seele zu bekommen, die weniger..anstrengend ist. Weniger schwierig. Weniger... Willow.
Aber mein Stolz wiederum...
"Nein..."
Erstaunt heben sich Morax Augenbrauen. "Nein? Ich dachte du hast Schwierigkeiten. Du stehst gerade auf der Spur und ich dachte du willst deine Mission so schnell es geht abschließen. War das nicht dein sehnlichster Wunsch?"
"Doch schon. Aber-", die Worte liegen mir auf der Zunge, kommen jedoch einfach nicht heraus, weswegen ich lachen muss. Ich war noch nie so unsicher bei einer Entscheidung wie dieser jetzt gerade. "Ich will der nächste legendäre Seelenräuber werden. Und keine Legende erzählt von einem Dämon, der seine Seele gewechselt hat, weil sie ihm zu schwer war. Ich will, dass man auf mich aufblickt, mich bewundert und über mich staunt. Ich will stolz auf meine Leistungen sein und mich nicht schämen müssen. Also...nein. ich möchte meine Seele nicht wechseln. Ich werde solange mit Willow weitermachen, bis ich endlich ihre Seele einsammeln kann. Denn nur so kann ich mein Talent beweise."
Nach dem Vortrag sehe ich Morax nervös an. Er erwidert meinen Blick lange Zeit ausdrucklos, bis er seine Augen schließt und...dann tut er etwas, dass er noch nie getan hat, seit er uns drei aufgezogen hat.
Seine Hand berührt meinen Kopf mit einer Sanftheit, die mir volkommen fremd. Es fühlt sich komisch an zu wissen, dass diese Berührung von ihm, unserem eiskalten, desinteressierten und brutal Ausbilder Morax ausgeht..."Du bist ein problematischer Dämon, Dantalion. Aber ein ausgezeichneter Seelenräuber."
***
Kurz nach seinem Kompliment hat Morax das Krankenhaus verlassen, um sich wieder um seine Arbeiten in Twilight Falls zu kümmern. Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht, was genau Morax eigentlich macht. Er ist unser Ausbilder und die rechte Hand des Herren, aber welche Aufgaben er genau zu erfüllen hat, könnte ich keinem erklären.
Ich puste Luft aus meiner Nase und greife wieder eine von Willows Haarsträhnen, spiele mit ihr zwischen meinen Fingern und denke über meine nächsten Schritte nach. All das, während ich ihr Gesicht nicht aus den Augen lasse. Das ferne Mondlicht leuchtet schwach auf ihr Gesicht, doch das scheint sie nicht zu stören. Aber dank dem Licht fallen mir wieder andere Details an ihr auf. Schwache Sommersprossen zieren ihre Nase und sie hat eine winzige, fast unsichtbare Kerbe unter ihrer Unterlippe...Unbewusst gleiten meine Finger auf mein Kinn und ich frage mich, ob meine Wunde schon verheilt ist. Weder Aki noch Sam haben mich auf sie angesprochen, aber vielleicht ist sie ihnen auch nicht aufgefallen. Oder sie ist ihnen sehr wohl aufgefallen, doch sie haben sich nicht gewundert, woher sie kommt. Immerhin nerve ich Morax schon länger mit meiner Art und er hat mich nicht selten mit Markierungen unserer Auseinandersetzungen versehen. Auch wenn diese hier anders ist als all jene zuvor.Ein schwacher Wind hauch fährt über meine Haut und lässt meine Nackenhaare aufstellen. Meine Augen verengen sich, während ich mich prüfend umsehe. Mir ist klar, dass es Mitarbeiter im Krankenhaus gibt, die ihre Runden in der Nachtschicht drehen, um nach Patienten zu sehen. Ihre Anwesenheit habe ich im Hinterkopf behalten. Aber das gerade war ganz sicher keiner von ihnen.
Langsam richte ich meinen Blick wieder auf Willows Gesicht, als mir im Augenwinkel eine Bewegung auffällt. Ohne mich groß zu bewege, schlage ich gegen den Lichtschalter an der Wand rechts von mir und spanne meinen gesamten Körper an, mache mich bereit anzugreifen, falls es zu einem Kampf kommen sollte. Zwei Kämpfe in einer Nacht sind keine schlechte Leistung, auch wenn Willow den ersten entschieden hat.
Innerhalb von Sekunden wird der Raum erhellt und die Dunkelheit schwindet, gibt preis, was möglicherweise die ganze Zeit schon in ihr lauerte.
Gegenüber von mir lehnt ein Junge mit unvergleichlicher Erscheinung. Haare so schwarz wie die Nacht, doch Augen so gelb wie flüssiges Gold, so hell, dass sie aus jeder Entfernung erkennbar wären. Er muss seine Augen die ganze Zeit über geschlossen haben.
"Wer zum Teufel bist du?", verlange ich mit fester Stimme zu sprechen.
"Wir reden nicht über den Teufel."
Irritation überkommt mich. "Was?!"
Er stöß sich von der Wand ab und tritt unters Licht. Erst jetzt erkenne ich alles von ihm. Ein Vollbart bedeckt seine Wangen, seine geschätzen 180cm sind gehüllt in eine schlichte, schwarze Jacke und eine hellblaue Jeans. Eine silberne Königskette hängt ihm um den Hals, während seine rechte Hand eine ebenfalls silberne, teuer aussehende Uhr ziert.
Mein Herz sinkt zu Boden, als ich realisiere, mit wem ich es zutun habe. Scheiße nein. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein! Das kann nicht ihr ernst sein!
Wut keimt in mir auf.
"Mein Name ist Taharek. Freut mich deine Bekanntschaft zu machen, Dantalion."Ein verdammter Engel...
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Souls - Die letzte Seele | Grman
ParanormalSeit Anbeginn der Zeit sammeln Engel die Seelen gefallener Menschen ein, um sie im Himmel aufzunehmen. Sind sie allerdings nicht schnell genug, kann es passieren, dass Dämonen ihnen zuvorkommen und die Seele in die ewige Verdammnis der Hölle entführ...