eins //

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„Lilith?"

„Hm?" Ich drehe mich zu James um, dessen Blick in den blutroten Himmel gerichtet ist und geradezu mit ihm zu verschwimmen scheint. Es ist kalt hier oben, beinahe, als wäre gar nicht Sommer doch die Natur um uns herum zeigt umso deutlicher, dass dem nicht so ist.

„Danke", meint mein bester Freund. Seine Stimme klingt leiser als normalerweise, fast so, als wäre er unsicher, aber das ist Unsinn. Unsicherheit ist bei uns beiden eindeutig meine Eigenschaft – James wirkt, als wäre er nur dazu geboren worden, selbstbewusst zu sein und genau das zeigt er jeden Tag und mit jedem Wort, jeder Geste. Selbst, wenn man ihm dabei zusieht, wir er ein Marmeladeglas öffnet, merkt man, wie wohl er sich fühlt als die Person die er ist.

Aus diesem Grund blinzele ich ihn jetzt auch verwirrt an. Aus diesem Grund – und, weil ich keine Ahnung habe, worauf dieses Danke sich jetzt genau bezieht.

„Du hast mir doch diese Wanderung zum Geburtstag geschenk", sage ich vorsichtig. „Also definitiv Danke meinerseits."

„Nein, ich meine..." Der Himmel, eben noch strahlend in der Farbe von Erdbeeren, verändert sich, wird beinahe lila und ich weiß, es wird nicht mehr lange dauern, bis er ganz von der Dunkelheit der Nacht verschluckt sein wird.

„... ich meine, generell. Danke, dass es dich gibt." James schluckt. „Du bist jetzt schon so lange der wichtigste Mensch in meinem Leben – und ich weiß, ich sage das viel zu selten."

Untertreibung des Jahrhunderts, er hat so etwas noch nie zu mir gesagt. Wir können zwar reden, über alles, konnten wir immer schon, aber Zuneigungsbekundungen – vor allem so deutlich ausgesprochene wie gerade jetzt – waren noch nie Teil unserer Freundschaft. Zu Beginn vermutlich aus Angst, das könne auf einer falschen Ebene aufgenommen und als Liebesgeständnis gesehen werden – was alleine von meiner Seite aus völlig lachhaft ist – später dann einfach, weil niemand von uns beiden damit anfing. Ich hätte nichts dagegen gehabt, ich mag es, sich gegenseitig wissen zu lassen, was man sich bedeutet, aber es ist nicht James' Ding.

Generell sind wir wie zwei Gegensätze, die dann aber aufeinandertreffen und sich perfekt ergänzen. James spricht, lacht und reißt Witze, teilweise mit Menschen, die er zum ersten Mal trifft, ich stehe daneben und lächle schüchtern. Ich liebe kleine Kinder, während er nichts mit ihnen anfangen kann. James sagt das, was ich nur denke, weil ich zu feig bin, es auszusprechen. Ich trinke, regelmäßig, während er immer nüchtern bleibt – weil er im Gegensatz zu mir keinen Alkohol braucht um aus sich herauszugehen. James hat sich um unsere gemeinsame WG und all ihren Papierkram gekümmert – ich bin einfach eingezogen, habe mich tausenmal bedankt und überweise ihm regelmäßig die Hälfte der Miete. Ich mag Filme mit Hintergrund, Filme über die man nachdenken kann, von denen man auch noch etwas hat, nachdem man das Kino verlassen hat, er liebt Romantik und Comedy, am besten beides vermischt. James sieht aus wie das Bild, das die meisten Hetero-Frauen vor Augen haben, wenn man sie nach ihrem Traummann fragt, ich kann mich jeden Tag aufs Neue entscheiden zwischen offensichtlich unreiner Haut oder überschminktem Gesicht. Aber das sind eben wir, das ist unsere Freundschaft – und sie funktioniert, unglaublich gut sogar.

„Kann ich nur genauso zurückgeben", murmele ich und rutsche näher an meinen besten Freund heran. „Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich dich nicht mehr hätte"

Inzwischen ruht mein Kopf auf seiner Schulter, doch ich kann sein Lächeln geradezu spüren und merke, wie es auch auf mich übergreift.

Eine Zeit lang sagt niemand etwas, über uns hört man einen Vogel – ich könnte nicht sagen, welcher, weil ich mich mit Tieren einfach nicht auskenne – und die Dunkelheit legt sich um den Berg und damit auch um uns wie ein Mantel.

Dann durchbricht James abermals die Stille und seine Stimme klingt wieder so, wie ich sie von ihm kenne. „Hast du auch manchmal das Gefühl, du passt nicht rein? In das Gesamtbild?" Das ist noch so etwas, das unsere Freundschaft ausmacht: In Momenten, in denen wir zu zweit sind, stellt früher oder später einer von uns beiden irgendeine tiefgründige Frage – und dann reden wir, oft stundenlang. Manchmal frage ich mich, ob uns irgendwann die Gesprächsthemen ausgehen werden, weil man schließlich irgendwann mal über alles gesprochen haben muss, das es gibt, aber gleichzeitig weiß ich, dass wir nie zu diesem Punkt kommen werden.

„Mhm", antworte ich ihm und stocke kurz, bevor ich weiterspreche. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich weiß nicht, wie das geht – Erwachsensein. Es fühlt sich so an, als hätten mit 18 oder 20 oder wann auch immer, alle einen Moment erreicht, an dem sie sich in dieser Welt zurechtfinden aber ich tu das nicht – ich komme mir oft vor, als wäre ich noch ein Kind, gefangen im falschen Alter"

„Stimmt auch, aber das meinte ich jetzt gar nicht so explizit", führt James das Gespräch weiter. „Ich fühle mich nicht zwingend jünger als ich bin. Eher, dass meine Gedanken sich einfach vom Rest abheben – so, als würden alle anderen die Welt in rot sehen, aber für mich ist sie blau, nur, dass ich das niemandem sagen kann, weil alle mich für verrückt halten würden. Weißt du, was ich meine?"

Ja, tue ich. Mehr, als er sich jemals vorstellen könnte. „Mhm"

Und in diesem Moment merke ich, dass ich mich zwar immer fühle, als könne ich James alles sagen – aber dass ich ihm lange nicht alles sage, eigentlich sogar einen großen Teil von mir aktiv vor ihm versteckt halte.

Ich möchte es ihm sagen, wirklich, jetzt noch mehr als sonst immer, aber ich schaffe es nicht. Ich wette, wenn mein bester Freund schwul wäre, er würde es mir am ersten Tag direkt sagen, und vor der ganzen Welt Männer küssen, weil es ihm egal ist, was andere von ihm denken – aber so bin ich nicht, auch, wenn ich es manchmal gerne wäre.

„Lilith, alles in Ordnung?" James stupst mich leicht an und ich weiß, ich könnte es ihm einfach sagen, es wäre so leicht, so okay für ihn. Ich könnte ihm einfach sagen, dass ich lesbisch bin, jetzt, in diesem Moment.

„Ja, alles klar", sage ich, und, um vom Thema abzulenken, weil ich letztendlich doch immer kneife, hänge ich noch dahinter: „Du meintest vorhin, du musst mir noch was erzählen?"

James steigt darauf ein, direkt, und platzt los: „Ich habe jemanden kennengelernt!"

the chance you got (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt