sechzehn //

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Die nächsten Wochen vergehen langsam, sie schleppen sich auf eine Art und Weise dahin, wie es nur nebelige Herbsttage können. Ich tue nicht viel, aber von dem, was ich tue, weiß ich kurze Zeit später schon nichts mehr, weil ich in Gedanken weiter weg bin als die Erde vom Weltfrieden.

James ist wieder öfter zu Hause, er versucht für mich da zu sein, so, wie er es immer war, unternimmt eines Morgens sogar den Versuch, mich zu einer Psychotherapeutin zu schleppen, aber ich blocke all seine Bemühungen, kapsele mich ab von der Außenwelt und vor allem von ihm.

Ich weiß, dass er keine Ahnung hat, warum ich gerade so bin, wie ich bin, aber selbst, wenn ich wollte, könnte ich es ihm nicht erklären, schließlich weiß ich es selbst nicht. Schließlich ist nichts Großes passiert – oder? Selbst, wenn ich wirklich noch Gefühle für meine Exfreundin habe – was ja an sich nichts Schlechtes ist, das passiert oft – ist sie ja trotzdem noch James' Freundin und zwischen uns ist nichts passiert. Zumindest nicht seit dem Abend im Club.

Schon während ich das denke, merke ich aber, dass das nicht stimmt, dass sehr wohl etwas passiert ist. Wir haben uns zwar nicht mehr zu zweit getroffen seither – und das vermutlich aus gutem Grund – aber wir waren sehr wohl öfter im selben Raum. Ich würde gerne sagen, dass ich mir das, was bei diesen Gelegenheiten geschehen ist, eingebildet habe, aber das habe ich nicht.

Ich merke, wie Erin mich ansieht – vermutlich auf dieselbe Art und Weise, wie auch ich sie ansehe, oder besser, wie ich sie ansehen würde, würde ich nicht mit allen Mitteln versuchen, mir nichts anmerken zu lassen. Ich merke, wie sie manchmal in einer fast nebensächlichen Geste von James wegrutscht, wie sie auf jeder Party bei mir steht. Ich merke, wie sie mir Komplimente macht – Aussagen, die mich glücklich und gleichzeitig schuldbewusst machen, die man aber mit gutem Willen auch als rein freundschaftlich betrachten könnte, Aussagen, die ich mich nicht traue, zurückzugeben oder wenn, dann nur in abgeschwächter Form.

Eines Nachmittags sind James und ich spazieren – etwas, das wir noch bis vor kurzem ständig getan haben, das inzwischen aber zu einer Rarität geworden ist.

Das Wetter ist auf eine gute Art und Weise kalt, es ist eine Art von Kälte, die man im Gesicht, aber nicht im Herzen spürt, eine Kälte, die die Wangen röter färbt als die von Bäumen fallenden Blätter.

„Lilith, ich weiß, wenn du darüber reden wollen würdest, würdest du es tun", beginnt James, seine Stimme sagt mir genau, wie unsicher er sich ist, ob er das Thema ansprechen kann und das gibt mir einen Stich im Herzen – weil es vor Erin eine Zeit gab, in der es keine Tabuthemen zwischen uns gab und nichts, was man nicht hätte ansprechen können. Ich erschrecke mich vor mir selbst, dass ich Erin im Stillen die Schuld an dieser Situation gebe und würde den Gedanken am liebsten aus meinem Gehirn löschen.

„Aber... du wirkst so abweisend, vor allem mir gegenüber, schon seit wir auf dem Berg waren eigentlich. Hat es..." Er schluckt und das Geräusch kommt mir lauter vor, als es sollte. „Hat es etwas mit mir zu tun? Habe ich... irgendwie falsch reagiert, als du mir gesagt hast, dass du lesbisch bist?"

„Nein!", sage ich und selbst, wenn zwischen James und mir alles andere als alles in Ordnung ist, wollte ich nie, dass er so etwas denkt. „Du hast wirklich toll reagiert und ich weiß, ich hätte es dir auch schon viel früher sagen können, du... bitte mach dir keine Gedanken"

„Bist du dir sicher?", fragt er nach. „Du bist seither so... anders, so distanziert. Irgendwie dachte ich, so etwas mit jemandem zu teilen, müsste eine Freundschaft sogar noch stärken, aber bei uns... ist irgendwie das Gegenteil passiert. Ich will dich nicht verlieren – nicht wegen so etwas"

Ich greife nach James' Hand, sie ist wärmer als meine. „Es ist alles okay, ehrlich. Ich... ich weiß selbst nicht, was gerade mit mir los ist." Wenigstens das ist nicht gelogen. „Aber ich will dich auch nicht verlieren – nicht wegen so etwas", wiederhole ich seine Worte und noch während ich das sage, scheinen die Gewichte, die schon seit Wochen auf meinem Herzen zu lasten scheinen, mich zu erdrücken.

„Hm", sagt James und zieht seine Hand aus meiner, es ist eine kleine Geste, die fast nebenbei passiert, aber sie sagt genug. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich das alles noch kann und wen ich am Ende dieser Geschichte verlieren werde.

Erin, James, oder mich selbst.

the chance you got (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt