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James sitzt mir gegenüber in der Kantine, ich sehe ihm dabei zu, wie er kaut, wie sich sein Kiefer bewegt, langsam aber auf unglaublich vertraute Art und Weise und bin still, während das schlechte Gewissen mich beinahe auffrisst, in mir lauert wie ein Raubvogel.

„Weißt du noch, als ich in der neun-" Er unterbricht sich selbst und fängt an zu lachen, es ist ein Geräusch, das zeigt, dass er keine Ahnung hat, von nichts und ich weiß nicht, ob ich das beruhigend oder beängstigend finden soll.

„Manchmal vergesse ich, dass wir uns eigentlich noch gar nicht soo lange kennen", sagt er und trinkt einen Schluck. „Ich meine, zwei Jahre sind nicht nichts, aber es ist nicht so, als würden wir uns seit unserer Kindheit kennen, weißt du, was ich meine? Trotzdem fühlt es sich irgendwie an, als wäre es so." Immer noch grinst er und ich tue dasselbe, bringe meine Mundwinkel dazu, das zu tun, was ich möchte, hoffe, dass er nicht in meinen Augen lesen kann, was los ist mit mir, was ich getan habe, was wir getan haben.

„Was sind drei Dinge, die du an dir magst?", fragt er jetzt und sein Gesichtsausdruck ist so ehrlich, dass es mir beinahe den Magen umdreht. „Wie kommst du da jetzt drauf?" „Keine Ahnung" James zuckt die Schultern. „Aber du wirkst traurig und so, als könntest du einen Selbstbewusstseins-Boost gerade definitiv brauchen."

In diesem Moment will ich nichts mehr, als mich einfach ihm in die Arme werfen und stundenlang dortbleiben. Ich habe früher nie verstanden, wie eine Person jemandes Zuhause sein kann, wie man sich bei jemandem so wohlfühlen kann, dass man ihn am liebsten immer um sich hätte, aber seit ich James kenne, tue ich das. Und welche hirnlose Vollidiotin würde schon ihr eigenes Zuhause zerstören?

„Meinen Rücken", sage ich und muss selbst lachen, nachdem ich es laut ausgesprochen habe. „Meine Augen und... wie ich mit kleinen Kindern umgehen kann." James ist jemand, bei dem kann ich solche Dinge sagen, ohne dass es komisch wirkt, ohne dass es rüberkommt, als würde ich mich selbst in den Himmel loben. „Bei dir?"

„Meine Hände", beginnt er und unwillkürlich lenke ich meinen Blick darauf, sie sind größer als meine, es ist nicht lange her, dass wir unsere unsere aufeinander gelegt und sie verglichen haben, und sie erzählen Geschichten. Geschichten, die ihn ausmachen, Geschichten, die ich größtenteils kenne, Geschichten, die ihn zu einem noch besseren Menschen machen als er es ohnehin schon ist.

„Dann... hm, dass man mit mir reden kann. Oder hoffe ich zumindest?" Seine Stimme nimmt einen fragenden Ton an, er sieht mich an und ich nicke so heftig, dass ich Angst habe, dass mir der Kopf abfällt. „Definitiv. Ich kann mit niemandem besser reden als mit dir."

James lächelt, dann fährt er fort. „Und meine Haare, denke ich."

Ich grinse zurück und gleich fühlt sich alles viel weniger falsch an als davor. Das hier ist eine ganz normale, wunderschöne James-und-Lilith-Situation, ein Gespräch über die unterschiedlichsten Themen, Geborgenheit, Vertrauen.

„Lilith, noch was" Bei den Worten beugt er sich etwas zu mir über den Tisch, eine Geste, die gleichzeitig aufmerksam und seltsam wirkt und senkt die Stimme etwas und kurz habe ich Angst vor dem, was kommen könnte.

„Als wir zusammen am Berg waren...", meint er und unwillkürliche entspanne ich mich. Es waren schöne zwei Tage, ich denke gerne an sie zurück, es sind Erinnerungen, die schon nicht mehr ganz frisch sind und mit der Zeit immer weiter verblassen werden, so lange, bis nichts mehr übrig ist außer diesem Gefühl von Dankbarkeit für diese vielen kleinen Momente und diesem melancholischen Beigeschmack.

„Du hast mir ja gesagt, dass du... lesbisch bist", sagt er und vor dem Wort ,lesbisch' stockt er kurz, ich kann es ihm nicht verübeln, es geht mir selbst manchmal nicht anders und ich könnte nicht sagen, wieso.

James fährt fort: „Ich habe dort sehr... wenig gesagt, ich denke, ich habe einfach nicht damit gerechnet und wusste nicht ganz, wie ich reagieren soll, weil ich das erste Mal in einer solchen Situation war, also-"

„Hey, James, es ist alles in Ordnung", sage ich, leicht lachend über seine unbeholfenen Worte und das mulmige Gefühl in meinem Inneren verwandelt sich immer mehr in etwas anderes, leichteres.

„Nein, trotzdem, ich habe ein bisschen drüber nachgedacht und wollte, dass du eine Sache noch weißt, okay?" Er stockt kurz, so, als müsse er sich überlegen, welche Formulierung für seine nächsten Sätze am angebrachtesten ist. „Ich werde mich nie auch nur annähernd an jemanden ranmachen, den du gut findest oder irgendetwas, okay? Also, egal jetzt, ob es jemand ist, an dem du Interesse hast oder jemand, an dem du mal Interesse hattest und egal wie scharf sie ist- mir war es wichtig, dass dir das bewusst ist, auch, wenn es natürlich logisch ist, das nicht zu tun aber... Ich weiß es auch nicht."

Er wirkt so unbeholfen und gleichzeitig so liebenswürdig und die dunklen Gedanken, die sich vorhin wie Gewitterwolken in meinem Herzen angesiedelt haben, kommen mit einem Schlag zurück, sorgen dafür, dass es in meinem Inneren so verrücktspielt, dass ich Angst habe, kotzen zu müssen.

Er ist so- er ist so verdammt nett, so unglaublich rücksichtsvoll und ich habe nichts Besseres zu tun, als seine Freundin – die erste Frau überhaupt, die ihm auf romantischer Ebene wirklich etwas bedeutet – zu küssen und danach auch noch zu merken, dass es nicht nur ein kurzes Herumknutschen ohne Gefühle war, sondern eines, das definitiv etwas in mir ausgelöst hat.

Ich ekele mich vor mir selbst, am liebsten würde ich aufspringen, hinauslaufen und irgendetwas tun, irgendwo dagegenschlagn, so lange, bis meine Knöchel bluten, ich will schreien, will alles aus mir rauslassen, was ich in meinem Inneren einschließe und niemandem zeige, schon gar nicht der Person, der ich bis vor einem Monat alles sagen konnte.

„Lilith?", fragt James vorsichtig. „Ist alles in Ordnung bei dir? Also falls ich etwas Falsches gesagt habe oder so tut mir das wahnsinnig leid, ich kenne mich nur bei dem Thema überhaupt nicht aus und wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich dich bei jeder Frau unterstützen werde, an der du Interesse hast."

„Danke, James", sage ich und lächle aber mein Inneres... mein Inneres gefriert gerade zu Eis.

the chance you got (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt