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Ich starre auf mein Handy, während ich auf die nächste Straßenbahn warte, lese ihre Nachrichten ein zweites, ein drittes Mal, um mir wirklich sicher zu sein, dass ich alles richtig verstanden habe, dass sie nicht davon ausgeht, dass ich James mitbringe, dass heute nicht der falsche Mittwoch ist, dass sie das Angebot nicht nur aus Höflichkeit gemacht hat.

Aber ich habe es Schwarz auf Weiß - ,wollen wir am mittwoch zusammen in die therme gehen?'. Eigentlich gibt es nichts misszuverstehen, vor allem nicht nach dem kurzen, aber alles ausagenden Chatverlauf, der auf diese Nachricht von vor einigen Tagen folgt.

Die Straßenbahn hält, ich steige ein, setze mich hin, starre hinaus, während sich der Waggon langsam wieder in Bewegung setzt. Durch das dreckig-milchige Fensterglas sehe ich die Stadt an mir vorbeiziehen, nicht schnell aber doch und es ist einer von diesen Momenten, in denen ich mich fühle, als wäre ich in einem Film und zwar vielleicht nicht der Hauptcharakter aber eine wichtige Nebenrolle.

Vor der Therme wartet Erin auf mich, ihre Wangen sind leicht gerötet, sie ist ungeschminkt und auf ihren Lippen liegt ein Lächeln, bei dem ich nicht anders kann, als es zu erwidern.

„Hi Lilith", sagt sie und noch bevor ich etwas antworten kann, hat sie die Distanz zwischen uns verringert und umarmt mich. Der plötzliche Körperkontakt bringt mich aus der Ruhe, ich rieche ihr Parfüm – es ist dasselbe wie damals auch –, ihre Haare kitzeln mich, ich spüre ihre Brüste an meinen und ihr Lächeln an meiner Schulter.

„Hi", sage ich, nachdem sie mich losgelassen hat und kann nichts dagegen tun, dass sich meine Kehle verengt. Wir sehen uns kurz an, ich wende den Blick wieder ab, fühle mich, als wäre das etwas zu Besonderes, das wir als zu selbstverständlich nehmen, krame in meinem Stoffbeutel nach meiner Geldtasche, damit ich etwas zu tun habe. „Wollen wir rein?"

„Klar" Als ich hinter ihr durch die Eingangstüre gehe, entdecke ich auf ihrem dottergelben Rucksack einen Button mit einem Regenbogen darauf, ich muss lächeln, er ist wie ein Zeichen dafür, dass sich seit damals etwas verändert hat, obwohl sie jetzt einen Freund hat, ein Beweis dessen, dass diese Erin selbstbewusster, mutiger geworden ist.

„Kommst du?", höre ich ihre Stimme und erst bei diesem tiefen Klang bemerke ich, dass ich langsamer geworden bin, jetzt beinahe drei Meter hinter ihr gehe. „Ja, ja, sorry", sage ich, überspiele meine geistige Abwesenheit mit einem Lächeln und dann mit einem scherzenden „Ich kann ja schließlich nichts dafür, dass du offensichtlich einen Wettlauf gewinnen willst"

Erin lacht und ihr Lachen ist eines der schönsten Geräusche, die ich seit langem gehört habe, dann antwortet sie, mit einem Zwinkern in den Augen, das sie jünger aussehen lässt als sie ist, das mir zeigt, dass sie noch dieselbe ist wie damals: „Ich kann nichts dafür, dass ich so schnell gehe, schließlich bin ich queer"

Sprachlos sehe ich sie an, weiß nicht, was mich an dieser Aussage am meisten erstaunt. Ich weiß nicht, ob es die Tatsache ist, dass sie einen unserer Insider von früher so locker bringt, ihn nicht vergessen hat, wie ich dachte, genauso wie ich dachte, dass sie so vieles vergessen hat, oder der Fakt, dass sie das in aller Öffentlichkeit sagt, ohne jegliche Scheu, ohne alle Unsicherheit.

Ich lache, ohne zu wissen, ob das wirklich meiner Gefühlslage entspricht, tue das, was von mir erwartet wird. Diese eine Aussage zeigt, dass Erin sich verändert hat, mehr als nur ein bisschen, und gleichzeitig, dass sie noch dieselbe ist wie damals, dieselbe, in die ich mich in meiner Jugendzeit innerhalb nur weniger Tage verliebt habe.

***

Jetzt ist es kurz vor neun Uhr abends, der Tag ist schnell vergangen, viel zu schnell und ich merke, wie er sich dem Ende neigt und gleichzeitig, wie ich genau das mit aller Macht zu verhindern versuche, wie ich mich an diese Stunden klammere wie eine Schiffbrüchige an ihr Rettungsboot, wie ich alles ausprobiere, um den Tag nicht enden zu lassen.

„Willst du noch einen Cocktail?", frage ich schnell und sehe zu Erin hinüber, die in ihrem schwarzen Bikini einfach göttlich aussieht. Alleine das kleine Wörtchen ,noch' in meiner Frage zeigt, dass ich definitiv nicht von dem ersten an diesem Abend spreche und wenn ich ehrlich wäre, müsste ich zugeben, dass ich schon ziemlich betrunken bin und wie auch Erin es ist, aber ich will jetzt gar nicht darüber nachdenken, will sie auf einen weiteren einladen und mit ihr lachen und reden, wie wir es schon seit Stunden tun.

Erin grinst wieder, mein Blick wandert ihren Körper hinunter, die Wassertropfen glänzen auf ihrer Haut wie kleine Diamanten, das Bikinioberteil besteht aus wenig Stoff, aus zu wenig für die betrunkene Version von mir und ich brauche einige Sekunden, bis ich ihr wieder in die Augen sehen kann.

„Nein", antwortet sie mir jetzt aber und ich muss zugeben, ich bin erstaunt und gleichzeitig fühlt es sich an wie ein Boxhieb in die Magengrube, ohne, dass ich etwas dagegen tun kann, ich wende meinen Blick von ihr ab, tue so, als wäre nichts interessanter als die Deckenlichter, die ich jetzt wie besessen anstarre.

Doch jetzt fährt sie fort und ich spüre richtiggehend, wie ich wieder Luft bekomme und sich mein ganzer Körper entkrampft. „Ich dachte, wir wollten abends noch ins Außenbecken?", fragt sie und zieht die Augenbrauen hoch. „Ich meine, soo viel Zeit haben wir ja nicht mehr, die machen hier um 22 Uhr zu..."

„Ach ja, stimmt... Richtig", antworte ich ihr und dann: „Können wir gerne machen."

Aber ganz ehrlich, eigentlich ist es mir egal, was wir machen, ich will nur noch nicht gehen.

Ich will nie wieder gehen.

the chance you got (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt