Eigentlich mag ich kein Halloween, generell mag ich in letzter Zeit keine Partys – oder zumindest keine, auf denen Erin auch ist – trotzdem stehe ich jetzt neben Lena in ihrem Badezimmer.
„Ich hab schließlich auch Geburtstag, das bedeutet, wenn du nicht kommst, ist es eigentlich so, als würdest du meine Geburtstagsfeier verpassen. Mit Absicht.", hat Lena gesagt – also mache ich mir hier mit ihr fertig, während wir darauf warten, dass die Gäste eintreffen. Im Hintergrund läuft Musik, natürlich, und ihre Mitbewohnerin Anna-Kathi steht neben uns.
Ich verkleide mich als Katze – und das nur aufgrund Lenas tatsächlich überzeugenden Überredungskünsten, denn eigentlich hatte ich vorgehabt, den Abend in Jeans und Hoodie zu verbringen. Stattdessen trage ich jetzt einen kurzen schwarzen Rock, ein gleichfarbiges Hemd und – ja, natürlich – einen Haarreifen mit Katzenohren.
Lena steht über den Spiegel gebeugt und trägt Lippenstift auf, während ich mich vergeblich mit meinem Make-up plage, bis Anna-Kathi mir irgendwann lachend den Eyeliner aus der Hand nimmt. „Darf ich mal?"
Fünf Minuten später ist der Look fertig, für den ich ohne fremde Hilfe vermutlich eine Stunde gebraucht hätte und Lena betrachtet uns strahlend im Spiegel. „Ich freu mich, wir sehen so gut aus!", ruft sie und in diesem Moment möchte ich ihr sogar zustimmen. Ich bin ganz schwarz, Lena hat sich als Hexe verkleidet, der bodenlange Rock ist für ihre Verhältsnisse sogar anständig, dessen Wirkung wird aber durch das dunkle Top ausgeglichen, das nicht mehr verdeckt als ein BH – falls es nicht sogar einer ist. Anna-Kathi trägt ein gekauftes Vampir-Kostüm, spitze falsche Zähne und ist beeindruckend geschminkt.
„Es ist Halloween, Lilith", sagt Lena irgendwann, nachdem sie uns lange genug im Spiegel betrachtet und gefühlte zehntausende Fotos gemacht hat. „Also der einzige Zeitpunkt im Jahr, in dem es absolut vertretbar ist, sich nuttig anzuziehen. Warte-"
Sie geht einen Schritt auf mich zu und öffnet bestimmt die oberen Knöpfe meines Hemds, so weit, dass man die Spitze darunter erkennen kann. „Viel besser", sagt sie zufrieden und wirkt, als hätte sie eine persönliche Mission erfüllt. „Jetzt kann es losgehen."
***
James gehört zu den letzten Personen, die kommen und er hat Erin dabei – natürlich, ich hätte es wissen müssen. Sie trägt eine Netzstrumpfhose, ein kurzes, rotes Kleid, Teufelshörner und einen Dreizack und natürlich sieht sie gut darin aus, sogar so gut, dass es mir kurz die Sprache verschlägt.
James begrüßt Lena und ich kann nichts anderes tun, als Erin anzustarren, ihre langen Haare, die ihr leicht gelockt ins Gesicht fallen, ihre Lippen, die dunkelrot geschminkt sind, ihr Ausschnitt, ihr Kleid, das so eng ist, dass man jede Kurve besser als je zuvor sieht und ihre Augen, die dunkel umrandet sind.
Wir stehen minutenlang nur da, ich starre sie an, versuche, das im Kopf zu behalten, gegen das ich die letzten Monate ohnehin schon viel zu oft gehandelt habe: Sie ist James' Freundin. James' Freundin. James' Freundin.
„Gefalle ich dir?", fragt sie irgendwann, die Stimme tief und rau, die Augen auf mich gerichtet und alleine mit dieser Frage brechen alle noch so guten Vorsätze in sich zusammen wie ein schlecht gebautes Kartenhaus.
„Ja", sage ich einfach, meine Stimme ist belegt und ich spüre, wie mein Körper alleine von ihrem Anblick und diesen drei Worten zu kribbeln beginnt.
„Dachte ich mir", antwortet sie und dann, mit normaler Stimme, so als sei nichts geschehen, an Lena gerichtet: „Danke für die Einladung"
***
Der Abend vergeht schneller als gedacht und irgendwann sitzen uns Erin und ich zusammen in irgendeinem Raum, während die anderen im Nebenzimmer ein Trinkspiel spielen.
Ich versuche, sie nicht zu auffällig anzustarren, weiß, dass das, was wir hier tun – zu zweit hier zu sitzen, leicht alkoholisiert – absolut falsch und das Gegenteil von dem ist, was ich tun sollte. Nämlich, mich von ihr fernzuhalten, das zu tun, was James im Gegenzug auch für mich tun würde.
Natürlich würde er es für mich tun, er würde alles für mich tun, wird mir schmerzhaft bewusst. Er hat mir das gesagt, des öfteren sogar schon und ich habe es immer aus ganzem Herzen zurückgegeben, aber was bin ich für eine beste Freundin, wenn ich so etwas mache?
„Wir haben schon länger nicht mehr geredet", sage ich und meine Stimme scheint alles zu verraten, was in diesem Moment in mir vorgeht. „Wie geht es dir?"
Als ich Erin ansehe, merke ich, dass sie mich mustert, merke, wie ihr Blick auf meinen Lippen hängen bleibt und dann in meinem Ausschnitt, der durch Lenas offene-Hemd-Aktion mehr in Szene gesetzt ist, als ich es sonst mag, aber es ist mir nicht unangenehm.
„Du siehst verdammt heiß aus", sagt sie anstatt einer Antwort und sieht mich weiterhin an, meine Wangen röten sich auf einen Schlag und das Ziehen in meinem Unterleib setzt bei ihren Worten wieder ein.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, denke an James, an seine Erzählungen darüber, wie sehr er Erin liebt, an den Blick, mit dem er sie ansieht, an sein Versprechen, immer für mich da zu sein, aber sobald ich wieder zu Erin sehe, deren Augen mich mustern, werfe ich alle meine guten Vorsätze in den Wind. Ich kann gar nicht anders, weiß, dass es einen Unterschied zwischen Kopf und Herz gibt, aber er ist mir im Moment egal.
„Du auch", sage ich und die Antwort sagt alles, was sie sagen soll und noch mehr.
Am liebsten würde ich jetzt zu Erin rutschen, ihr sagen, dass ich sie immer noch liebe – denn ja, das tue ich, das wird mir in diesem Moment schmerzlich bewusst –, sie an mich ziehen, sie küssen, sie ausziehen, mit ihr schlafen und nicht an die Konsequenzen denken, aber das geht nicht. Ich schaffe es nicht und ich weiß, morgen werde ich froh sein über diese Entscheidung, auch, wenn sie mir jetzt, in diesem Moment, wie die schlechteste der Welt vorkommt.
„Mache ich dich nervös, Lilith?", fragt Erin, wendet den Blick nicht von mir ab, er ist dunkel und hungrig.
Ich will ihr das Ja auf diese Frage entgegenschreien, das und noch so viel mehr. Dass ich alles von ihr wissen will. Wo sie lebt und mit wem, wie es mit dem immer schon so schwierigen Verhältnis zu ihren Eltern aussieht, ob sie mich genauso vermisst und will wie ich sie, wie ihr Tagesablauf aussieht, was ihre Träume sind.
Ich will alles von ihr wissen, so wie ich es schon einmal getan habe, und noch mehr, will sie berühren, will alles von ihr haben.
Die Stille zwischen uns dauert lange an, viel zu lange und irgendwann wird sie von Erin unterbrochen.
„Ich könnte mit James Schluss machen. Das weißt du, oder?"
Und diese Worte legen in mir einen Schalter um, der mich wieder bemerken lässt, was ich hier eigentlich mache.
Also springe ich auf und verlasse den Raum.
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the chance you got (gxg)
Romance"Ich habe keine Ahnung, wie lange ich das alles noch kann und wen ich am Ende dieser Geschichte verlieren werde - Erin, James, oder mich selbst." ... James ist kein berühmter Mensch, niemand Weltbekanntes, doch für Lilith ist er alles: Der beste Fre...