Erin und ich fahren schneller auseinander, bevor ich die Situation überhaupt zur Gänze realisiert habe, eine Distanz, die mir im ersten Moment viel zu kurz vorkommt, trennt uns, gleichzeitig weiß ich, dass wir uns zu nahe sind. Immer noch. Ich weiß nicht, wie viel er gesehen hat, aber das muss er auch nicht, unsere Wangen sind gerötet, die Haare zerzaust, unsere Lippen geschwollen.
Wir stehen da, wissen nicht, was wir sagen sollen und genau darum sagen wir gar nichts. Uns gegenüber steht James. Und in seinem Gesicht sehe ich pure Enttäuschung und einen Ausdruck, den ich nicht deuten kann, den ich aber noch nie in seinen Augen gesehen habe und ganz ehrlich- kann ich es ihm verübeln?
„Was macht ihr da?", wiederholt mein bester Freund – und Erins fester Freund, rufe ich mir wieder in Erinnerung, wiederhole es in Gedanken wie ein stummes Mantra – und seine Stimme durchschneidet die kühle Nachtluft wie ein Schwert.
Erin bewegt sich noch einen Schritt weiter von mir weg, ihre ausgetretenen Vans hinterlassen ein leises Tap auf der Straße.
„Ich wollte wissen, wie es ist, ein Mädchen zu küssen, das tun viele, wenn sie betrunken sind", flüstert Erin, ihre Stimme ist belegt von Schuld und auch, wenn ich es weiß, dass sie nur Schadensbegrenzung betreibt – für einen Fehler, den wir beide gemacht haben – bohren sich ihre Worte in mein Herz wie kleine, spitze Pfeile. Gleichzeitig weiß ich nicht, was ich davon halten soll, dass sie James offensichtlich nichts davon erzählt hat, dass sie bi ist, aber ich verdränge den Gedanken, der in der Situation gerade alles andere als wichtig ist.
„Lilith?", fragt James und er klingt verletzt, das schlechte Gewissen in meinem Kopf macht sich immer breiter.
Ich sehe meinen besten Freund an, sehe die Person, die immer für mich da, die mich im Arm gehalten hat, wenn ich geweint habe und mich niemand sonst verstanden hat. Ich sehe die Person, mit der ich mir eine WG teile und die ich mehr liebe als alles andere in der Welt. Ich sehe die Person, der ich mehr vertraue als meinen eigenen Eltern.
„Das... stimmt", pflichte ich Lilith bei und es ist genau das Gegenteil von dem, was ich sagen will, würde am liebsten in die Welt hinausschreien, dass das kein betrunkenes Herumknutschen unter Freundinnen war.
„Ich habe auch schön öfter Lena geküsst", füge ich hinzu und meine Stimme klingt dünn, wie die einer Lügnerin und ich bin mir dessen bewusst, dass ich auch bin. Andererseits – das ist nicht gelogen, ich habe Lena schließlich wirklich geküsst. In demselben Moment, in dem ich das denke, merke ich schon, dass das nicht stimmt, natürlich tut es das nicht. Lena und ich kennen uns seit Ewigkeiten, sie ist zu 100% straight und denkt außerdem, ich sei das auch. Zusätzlich war bei den paar Küssen zwischen Lena und mir vor allem Alkohol im Spiel – aber nie Gefühle, die über die in einer Freundschaft hinausgegangen wären.
James wirkt nicht ganz überzeugt, aber so, als wolle er die Wahrheit gar nicht wissen, so, wie viele andere Menschen am Glauben festhalten wenn ihnen nichts anderes mehr bleibt, genauso wie auch Mama und Papa nach Max an der Religion festgehalten haben, als hätten sie sonst nichts mehr, nicht einmal noch mich.
Gerade, als ich noch etwas sagen will – ohne genau zu wissen, was eigentlich – stolpert Erin einen Schritt auf James zu. Sie wirkt betrunken, betrunkener als sie ist, das weiß ich und ich wette, sie tut das mit Absicht. Ich will mich abwenden, ihr nicht dabei zusehen, wie sie sich meinem besten Freund an den Hals wirft aber mein Blick bleibt starr wie Sterne am Nachthimmel, er klebt an ihnen wie Kaugummi und ich hasse mich selbst dafür.
Mein Herz schlägt immer noch schnell in meiner Brust, viel zu schnell, meine Augen sind auf Erin und James gerichtet, die so knapp nebeinander stehen, dass ich weiß, dass die Sache für James damit erledigt sein wird – auch, wenn mir das eigentlich sogar schon vorher bewusst war.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen will, aber ich merke in diesem Moment, wie das passiert, was schon seit Monaten – ja, eigentlich schon seit Jahren – unausweichlich war. Ich spüre, wie meine inneren Mauern einstürzen, wie sie bröckeln, als könnten sie dam ganzen Druck nicht mehr standhalten. In meiner Brust spüre ich ein Stechen, das bis zum Hals geht und hinter meinen Augen brennt es verräterisch, auch, wenn ich keine Ahnung habe, wieso, wieso genau jetzt. Ich weine nie.
Die aufgekratzte Erwartung von vorhin ist verschwunden, jetzt piekst mich die Kälte mit spitzen Nadeln in meine Haut, ich spüre sie überall, auf den Armen, in meinem Gesicht, in meinem Herzen.
„Es tut mir leid", flüstert Erin. Sie sieht James dabei an, trotzdem weiß ich instinktiv, dass sie damit auch mich – oder besonders mich – meint. Ich kenne sie, in diesem Moment wird mir das noch deutlicher bewusst als es das die ganze Zeit schon war. Ich weiß vielleicht nicht, welche Band sie gerade am liebsten mag, wo sie wohnt, ob sie studiert und wenn ja, was aber ich weiß so viel mehr von ihr.
„Gehen wir nach Hause?", fragt mein bester Freund irgendwann, er sagt es zu mir und aus seiner Stimme kann ich heraushören, dass er mir nicht böse ist, dass er uns glaubt, und das schlechte Gewissen frisst mich von innen her auf.
„Tschüss", sagt James an Erin gerichtet und die Liebe zu ihr in seinem Blick bringt mich beinahe um oder bringt mich zumindest dazu, es selbst tun zu wollen.
„Tschüss, James", antwortet Erin.
Sie und ich sagen nichts zueinander. Wir sehen uns nicht einmal an.
DU LIEST GERADE
the chance you got (gxg)
Romance"Ich habe keine Ahnung, wie lange ich das alles noch kann und wen ich am Ende dieser Geschichte verlieren werde - Erin, James, oder mich selbst." ... James ist kein berühmter Mensch, niemand Weltbekanntes, doch für Lilith ist er alles: Der beste Fre...