Der Wolf und das Kitz I

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Cyn platzte in das Haus, ohne anzuklopfen. »Habicht?«, rief er durch den Flur und drehte die Klinge in seiner Hand. »Ich weiß, dass du hier bist.«

Seine Informantin lebte in der Oberstadt, in der die Dächer aus Gold und die Wände aus Marmor gefertigt waren. Sie hatte reich geheiratet und nachdem ihrem Mann ein ›Unglück‹ widerfahren war, hatte sie sein Vermögen geerbt. Manchmal fragte sich Cyn, weshalb sie sich überhaupt mit ihm abgab. Die Welt stand ihr offen und sie könnte sich alles leisten, was sie wollte – und das tat sie auch. Büsten dekorierten die Eingangshalle. Die Abendsonne, die durch die hohen Fenster fiel, brachte die Kristalle des Kronleuchters an der Decke zum Glitzern.

Und obwohl sie alles haben könnte, pflegte sie immer noch Kontakt zu Cyn.

»Habicht!«, rief er. Er würde nicht die tausenden Zimmer absuchen, um sie zu finden.

»Wölfchen, begrüßt ihn der Habicht«, erklang eine Stimme, in der er das breite Grinsen hören konnte. »Er fängt schon wieder an, die Zähne zu fletschen, sodass der Greifvogel ihn nur aus der Ferne beobachtet.«

»Lass die Spiele«, knurrte Cyn. Er drehte sich um die eigene Achse und suchte seine Informantin, doch keiner der flackernden Schatten zeigte sie und die Wände warfen ihre Worte aus allen Richtungen zurück.

»So sprach der Wolf, doch der Habicht fragte sich, was seinen Freund so erzürnte, dass er das Maul schon weit geöffnet hatte, bereit zu töten. Hatte er nicht alles erreicht, was er erreichen wollte?«

»Der Mond war nicht da«, rief Cyn in den Raum hinein. »Hast du mich angelogen?«

Stille füllte den Saal an, bis die Stimme antwortete. »Ein Habicht ist kein Wiesel. Er lügt nicht.«

Ein Schatten landete hinter ihm. Er wirbelte herum, aber ehe er seinen Dolch heben konnte, lag schon eine Klinge an seinem Hals.

»Der Wolf wird langsam«, sprach die Frau vor ihm. Lange blonde Haare rahmten ihr eher rundliches Gesicht mit großen braunen Augen und einer Stupsnase ein. Sie sah aus, als wäre sie die Unschuld in Person, doch wenn sich ihre Lippen wie jetzt zu einem breiten Grinsen verzogen und Hohn in ihrem Blick lag, dann erkannte jeder, was sich hinter dieser schuldlosen Miene verbarg.

»Selbst ein Kitz ist ihm fortgelaufen?«, fragte sie.

»Vielleicht sind dem Kitz auch Flügel gewachsen und es ist fortgeflogen«, gab Cyn zurück.

Habicht neigte den Kopf und ließ das Messer von Cyns Hals sinken. »Solche Dinge bespricht man nicht in der Eingangshalle.«

Cyn atmete geräuschvoll aus. Sie hatte endlich erkannt, dass es kein Spiel war.

Sie wandte sich ab und führte ihn über eine breite Treppe, in deren Geländer Tiere und eine Waldlandschaft eingeschnitzt waren, in das obere Stockwerk und dort in einen Raum.

Cyn hob eine Hand vor seine Augen, um sich vor den Strahlen der Abendsonne zu schützen, die durch die hohen Fenster auf ihn niederfiel.

»Der Mond war nicht dort?«, fragte Habicht. Sie setzte sich auf einen der Sessel und deutete ihm an, sich auf den anderen zu setzen. Das Lächeln war ihr aus dem Gesicht gewichen und nun lag eine Kühle in ihrem Blick, wie er es nur selten bei solch dunklen Augen gesehen hatte.

Cyn ließ sich auf den Sessel fallen und legte seine Füße trotz Habichts finsterer Miene auf den Tisch davor. Er nickte. »Das Haus war leer, als ich ankam. Es war zwar noch ein Feuer im Kamin und auch die Tür war abgeschlossen, aber dort war niemand.«

»Merkwürdig«, meinte Habicht und neigte den Kopf. »Dabei sah ich seine Wachen in der Nacht sogar die Straßen vor deinem Haus nach ihm absuchen. Ich hatte mich schon darauf vorbereitet, ein Ablenkungsmanöver beginnen zu müssen.«

Der Dieb und der MondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt