Cyn stellte den Stapel Bücher auf dem Tisch ab. Seine Arme hatten schon nach der Hälfte des Weges um Erlösung gefleht, aber er hatte den beiden Göttern schlecht sagen können, dass sie ihm einige Bücher abnehmen sollten. Daher hatte er stumm gelitten, während Lehu ihn und Nilan durch sein Haus geführt und in ihr Zimmer gebracht hatte.
Es war einer der wenigen Räume, der nicht von dem grauen Schein und den blauen Blumen eingenommen war. Stattdessen war er ähnlich wie die Bibliothek in warmes Licht getaucht, obwohl Nebel vor der gläsernen Balkontür hing und den Himmel verdeckte.
Nur ein Bett stand in dem Zimmer – dafür war es aber ein großes Himmelbett mit violetten Laken. Vermutlich würde Nilan in dieser Nacht ohnehin nicht schlafen und stattdessen auf einem der Stühle sitzen und lesen.
»Morgen solltet ihr sofort aufbrechen, sobald der Mensch erwacht ist«, sagte Lehu an seinen Bruder gewandt. »Ich werde dann vermutlich nicht da sein, um mich zu verabschieden.«
Der Tod hatte die Worte kaum ausgesprochen, da hüpfte Nilan schon zu ihm und schloss ihn in seine Arme. Lehu seufzte leise und tätschelte Nilans Rücken.
»Wir werden uns sicherlich bald wiedersehen«, sagte er.
»›Bald‹ kann vieles heißen.« Diesmal ließ Nilan ihn zwar ohne einen Hinweis los, doch nicht, ohne ihn noch einmal an sich gedrückt zu haben.
Lehu ging nicht auf ihn ein. Er nickte ihm nur zur Verabschiedung zu und missachtete Cyn vollkommen, ehe sich die violetten Flügel öffneten und ihn verschlangen.
Cyns Blick wanderte zu dem Stapel Bücher, den er abgestellt hatte. Auf dem Einband des obersten tanzte eng verschlungen ein Pärchen – er redete sich zumindest ein, dass sie tanzten.
»Liest du immer solches Zeug?«, fragte er.
»Bücher?«, hakte Nilan nach. »Was sollte ich denn anderes lesen?«
»Ich meinte eher den Inhalt. Was du mir vorgelesen hattest, klang sehr ... eindeutig.«
Nilan sah zu dem Buch in seiner Hand. Das einzige, das er getragen hatte. »Meistens«, sagte er. »Dort, wo ich früher gelebt hatte, standen größtenteils Liebesgeschichten. Ich las von Seelenverwandten, die sich auch nach dem Tod wiedertrafen. Von Liebenden, die gegen die gesamte Welt bestehen mussten. Von ...« Seine Mundwinkel zuckten und er schüttelte den Kopf. »Von Prinzessinnen, die von Drachen entführt wurden. Ihnen eilte ein Held zur Rettung, doch letztlich verliebten sie sich nicht in ihn, sondern in den Drachen. Angesichts meiner damaligen Lage irgendwie ironisch.«
»Hm«, machte Cyn nur. Er verstand, weshalb er Bücher in seinem Leben nicht vermisste.
»Was ›hm‹?«
»Einfach nur ›hm‹.«
»Es klang aber nach einem sehr grummeligen ›Hm‹.«
Cyn brummte nur etwas, von dem er nicht einmal selbst wusste, was es sein sollte. Nilan jedoch sah ihn immer noch fragend an und daher sprach er weiter. »Weshalb liest du sowas?«
»Es klingt schön.« Nilan hüpfte auf ihn zu. »Diese Liebe, die alles bezwingen kann. Dieses Gefühl davon, Zuhause angekommen zu sein, wenn man bei seinem Liebsten ist. Füreinander da zu sein, alles miteinander zu teilen. Der Grund zu sein, weshalb sich jemand zum Besseren ändert. Es klingt schön.«
Cyn gab sich alle Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. »Und dafür ist es notwendig einander ...« Er suchte nach einem Wort, das den Gott nicht traumatisieren würde. »... einander so körperlich nah zu sein?«
Nilan legte den Kopf schief. »Was wäre denn die Alternative?«
»Freundschaft?«
Nilan neigte den Kopf in die andere Richtung und als von ihm keine Antwort kam, fuhr Cyn fort: »Sollte nicht auch eine gute Freundschaft das besitzen, was du gerade aufgezählt hast? Sollte man nicht auch seine Freunde irgendwie lieben?«
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Der Dieb und der Mond
FantasyDer Mond ist gefallen und nun erfüllt er einmal im Monat den Menschen Wünsche - vorausgesetzt sie können es sich leisten. Cyn ist nicht bereit, sein hart erarbeitetes Gold dafür aufzuwenden, und entschließt sich, stattdessen den Mond zu stehlen. Doc...