Von Helden und Monstern I

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Cyn stieß Nilan mit seinem Stiefel an. Sofort schoss der Mond auf. Als sein Blick auf Cyn fiel, verschwand die aufflackernde Panik wieder und er rieb sich die Augen.

»Gut geschlafen, Prinzessin?«, fragte Cyn. Er kannte die Antwort schon, ehe Nilan mit dem Kopf schüttelte. Die ganze Nacht hatte sich sein Reisegefährte herumgewälzt und zupfte nun Gräser und Zweige aus den halb schwarzen, halb silbernen Haaren.

Cyn schürzte die Lippen, ein wenig enttäuscht darüber, dass Nilan nicht auf seine Stichelei eingegangen war.

Ihr Weg führte sie weiter gen Norden. Die Strahlen der Morgensonne vertrieben die Dunkelheit und tauchten den Wald in goldenes Licht. Am Himmel funkelten noch einige Sterne als letzte Bastion der Nacht, doch bald würde sie den Kampf verloren haben. Bei Abenddämmerung würde sie sich das Reich erneut erobern.

Die Vögel wachten aus ihrem Schlummer und zwitscherten heiter in den Baumkronen.

Schon am frühen Morgen musste Cyn so viel Idylle ertragen. Er verzog das Gesicht und hüllte sich in eine finstere Gewitterwolke.

Nilan hingegen lächelte und schloss für einen Moment die Augen, um die Wärme auf seiner Haut zu genießen. Über Nacht waren vereinzelt winzige Kristalle an seinen Schläfen und seinen Wangen aufgetaucht, in denen sich das Licht der Morgensonne brach, sodass kleine Regenbögen über seine Haut wanderten.

Wenn es stimmte, was er gesagt hatte – dass er über Jahre gefangen gehalten wurde –, hatte er dann überhaupt jemals in einem Wald gestanden? War er je unter freiem Himmel oder im Schein der Sonne gewesen, ohne in Ketten gelegt zu sein?

Cyn hatte nicht stehenbleiben wollen und ging nun weiter, sodass Nilan zu ihm aufholen musste.

»Kann deine Schwester uns eigentlich sehen?«, fragte Cyn nach einigen Momenten, in denen nur das Vogelgezwitscher und das sanfte Flüstern des Windes in den Baumkronen erklang.

»Hm?«, machte Nilan, der offenbar in seinen Gedanken gewesen war. »Welche von meinen Schwestern meinst du?«

Cyn deutete nach oben. »Die Sonne. Awia.«

»Awia ist eher meine Tante und nicht meine Schwester«, sagte Nilan. »Und ich denke nicht, dass sie uns sieht. Die Welt ist so groß und von oben sind wir nicht mehr als kleine Wellen im Ozean oder Striche in dem Deckengemälde einer Kirche.«

»Oder Würmer auf dem Boden, wenn es regnet.«

Nilans Kopf drehte sich langsam zu ihm. »Das ist kein schöner Vergleich.«

»Wie Käfer in verfaultem Essen?«, versuchte Cyn es erneut.

»Das macht es nicht besser.«

»Dabei gebe ich mir doch so viel Mühe.« Cyns Mundwinkel zuckten bei dem Anblick von Nilans zusammengeschobenen Brauen.

»Und jetzt lügst du schon wieder«, meinte der Mond. »Warum lügst du ständig?«

»Mache ich doch gar nicht.« Cyn war wirklich nicht der Meinung, dass er oft log. Nur, wenn es notwendig war. Wenn er einen Gott aus den Fängen irgendeiner Wache befreien oder Leute, die ihm Avancen machten, abwimmeln musste. Beides nichts, was oft geschah.

Nilan schnaubte leise und presste die Lippen zusammen.

Durch die Reaktion lachte Cyn auf. Solange er ignorierte, dass Nilan ein Gott war, der sein Leben mit einem Gedanken beenden konnte, war es ganz witzig, ihn zu ärgern.

Cyn stockte. Seine Nackenhaare stellten sich auf, obwohl die Sonne eine angenehme Wärme auf seiner Haut hinterließ. Er drehte sich um die eigene Achse, doch sie waren allein auf dem Pfad.

Der Dieb und der MondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt