Asche und Nebel I

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Lehu brachte ihn zurück in die Bibliothek. Sein Blick fiel zuerst auf Nilan, der auf einem Sessel zwischen den Regalen saß. Er hatte beide Beine angezogen und lehnte von der Tür abgewandt. Ein Stapel aus etwa einem Dutzend Bücher stand vor ihm auf dem Boden, eines hielt er in der Hand.

»Ich kehre bald zurück«, sagte Lehu. »Doch nun muss ich erst einmal gehen.« Die Glocke erklang, dröhnte im gesamten Gemäuer wider. Zwei violette Flügel öffneten sich hinter dem Tod und schlossen ihn ein. Licht blitzte auf und die Schwingen verschwanden – und Lehu ebenso.

Cyn verharrte einen Moment und blickte auf den Punkt, an dem der Tod kaum einen Wimpernschlag vorher noch gestanden hatte. Dann riss er sich los und betrat die Bibliothek.

Als er sich Nilan näherte, blickte dieser kurz auf, ehe er wieder in dem Buch versank. Eine Lyra spielte irgendwo in der Ferne eine leise Melodie.

›Du hast ihn enttäuscht‹, hatte Lehu gesagt. Cyn schüttelte die Gedanken von sich, obwohl ihm das Gespräch mit dem Tod und ebenso die Begegnung mit Kedras noch tief in den Knochen lagen.

Er setzte sich auf die Armlehne neben Nilan und sah in das Buch. Die Lettern verschwammen vor seinen Augen und waren zu klein, als dass er auch nur ein Wort entziffern könnte.

»Was liest du?«, fragte er.

Nilan sah auf und legte den Kopf schief. »Ein Buch.«

»Das sehe ich selbst.« Cyn seufzte. »Ich meinte eher: Was steht in dem Buch?«

»Ich kann dir vorlesen, wenn du möchtest.«

Cyn nickte.

Nilan sah in das Buch. Er suchte die Stelle, an der er stehengeblieben war, und las: »Er packt meine Hüfte und zieht mich zu sich zurück. ›Eines scheinst du vergessen zu haben‹, knurrt er. ›Du gehörst mir.‹ Seine Hand wandert unter meinen Rock und streift meine –«

»Danke, das reicht«, unterbrach Cyn ihn.

Nilan warf ihm einen Blick zu und meinte: »Ich lese die Seite noch zu Ende und dann bin ich wieder bei dir.«

Cyn nickte, aber er war nicht sicher, ob Nilan es noch sah, ehe dieser zurück in das Buch blickte. Das warme Licht in der Bibliothek ließ sein Haar und seine Haut golden Schimmern. Der leichte Glanz der Heiligkeit, der einen jeden Gott umgab.

Seine Finger prickelten, als sein Blick zu Nilans Hörnern schweifte. Er ballte seine Hände zur Faust und ignorierte die Gedanken. Es ging zu weit, sich zu fragen, wie sich die Hörner anfühlten.

Nilans Augen hatten mittlerweile die Farbe des Nebels angenommen, der die Stadt des Todes umhüllte. Nahezu weiß mit einzelnen grauen Sprenkeln. Wie Sterne. Sie flogen über die Seite, bis sie am Ende angekommen waren und Nilan ein Lesezeichen in das Buch legte und es schloss.

»Wie soll ich dich nun eigentlich nennen?«, fragte Cyn und lehnte sich zurück. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich vorgebeugt hatte.

Nilan wandte sich ihm zu, doch so wurde sich Cyn gewahr, wie nah sie einander waren. Vielleicht hätte er sich nicht auf die Armlehne setzen sollen.

»Was gefällt dir an meinem Namen nicht?«, fragte Nilan.

»Es ist nicht so, dass er mir nicht gefällt«, sagte Cyn schnell – unter anderem, da Lehus ›Enttäusche ihn nicht noch einmal‹ in seinem Kopf widerhallte. »Aber du heißt doch Einar. Du nanntest mir einen falschen Namen, als du dich vorgestellt hast.« Eigentlich seltsam, da der Mond gegen das Lügen war.

Nilan legte den Kopf schief. »Ich gab dir keinen falschen Namen. In dieser Sprache mag man mich ›Einar‹ nennen, doch in anderen heiße ich anders. Und du kannst mich gern weiterhin so nennen.«

Der Dieb und der MondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt