Ich öffne unsere Haustür und betrete das Wohnzimmer. Ohne meinen Rucksack abzulegen, gehe ich an meinem Vater und Tyler vorbei. Beide sitzen auf dem Sofa, die Blicke auf den Fernseher gerichtet. Sie schauen jedes Spiel zusammen.
Mein Vater lächelt mich an.
"Hallo, meine Prinzessin. Wie war die Schule?", fragt er, fröhlich. Obwohl es ein schlechter Tag war, versuche ich es mir nicht anmerken zu lassen. Es ist nicht so, dass ich ihm erzählen würde, was passiert ist. Das ist viel zu kindisch und ich möchte nicht, dass er bemerkt, wie ich immer mehr abrutsche.
Wie ich immer kleiner werde und mich bald auflöse.
"War gut." Ich gebe ihm ein müdes Lächeln und bemerkte, wie Tyler mich so beäugt, als hätte ich etwas falsch gemacht. Dass er mich hasst, weiß ich schon aber diese Situation ist anders. Als würde ich ihn anwidern und ich frage mich, ob er von dem Geheimnis weiß. Ob er weiß, dass ich es weiß.
Etwas angespannt betrete ich die Küche, um mir ein kaltes Glas Wasser einzuschenken. Ich muss abkühlen. Tylers Blick hat meine Kopfhaut und mein Gesicht zum Brennen gebracht. Panik macht sich in mir breit und ich hasse dieses Gefühl. Es bringt mich zum Zittern und sorgt dafür, dass mir übel wird. Ich muss es loswerden.
Dringend.
Meine Mutter ist dabei, das Abendessen zu kochen. Ihr Blick ruht auf mir, doch ich ignoriere sie. Sie ist die letzte Person, mit der ich gerade sprechen möchte. Um nicht daran zu denken, schnappe ich mir ein Glas und fülle Wasser hinein. Aus dem Tiefkühlfach nehme ich mir Eiswürfel und bevor ich alle in mein Glas werfe, nehme ich noch eins in den Mund.
"Das ist ein schöner Rock. Ist er neu?", fragt meine Mutter mich. Sie möchte das Eis brechen, doch dafür ist es viel zu dick.
Und kalt.
Jemand muss ihr sagen, dass es so nicht funktioniert. Ein Kompliment über meinen Rock lässt mich nicht vergessen, dass sie mit einem anderen Mann schläft. Ein Lächeln lässt mich nicht vergessen, dass es schon seit sechs Monaten so ist.
Gar nichts macht das wieder gut.
"Nein", antworte ich leise, während ich den Eiswürfel in meinem Mund herumschiebe.
Vor zwei Monaten, habe ich sie bei einem Telefonat erwischt. Sie sprach leise und kicherte oft. Zu oft. Sie schien überglücklich und kokett. Dass es nicht nur eine Arbeitskollegin oder eine Freundin sein konnte merkte ich, als sie der Person sagte sie würde sie lieben. Denn mein Vater saß in dem Moment im Wohnzimmer. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ohne sie weitersprechen zu lassen, zeigte ich mich und riss ihr das Telefon, aus der Hand. Ich schrie sie an und wir stritten uns. Sie schaffte es, mich zum Schweigen zu bringen, damit mein Vater es nicht herausfindet. Indem sie mir damit drohte, dass unsere Familie auseinanderfallen würde und ich schuld wäre sorgte sie dafür, dass ich den Mund hielt.
Schlechtes Gewissen ist ein starkes Druckmittel.
Es zerfrisst dich und sorgt dafür, dass du den Mund nicht aufkriegst, und irgendwann ist es viel zu spät und dann bist du genauso schuldig wie die Person, die den Fehler gemacht hat.
Nachdem ich einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, versprach sie mir diesen Mann nie wieder zu sehen. Ich nahm sie bei ihrem Wort, doch ich wusste, wohin sie ging wann immer sie das Haus verließ.
Seit zwei Monaten bin ich hasserfüllt. Mein Schlaf, meine Zensuren und mein Verhalten leiden darunter. Ich bin angewidert und ich hasse mich selbst dafür, dass ich die Tochter einer illoyalen Frau bin. Ich werde paranoid. Ich befürchte, dass mein Vater herausfinden könnte, dass ich es weiß. Ein Teil von mir hofft, dass er es endlich herausfindet und der andere hat fürchterliche Angst davor. Wenn er es herausfindet, ist es vorbei und ich muss mich nicht mehr zusammenreißen. Aber dann geht diese Familie vielleicht kaputt. Wenn er es nicht herausfindet, muss ich diese Schande mein Leben lang mit mir tragen.