Nach sechs Wochen habe ich mich langsam an die Situation gewöhnt. Es ist überraschend, aber so langsam habe ich mich damit abgefunden, dass ich vorerst nicht nachhause gehen werde.
Es fällt mir zwar immer noch nicht leicht halbnackt vor fremden Männern zu tanzen und meine ganze Zeit in diesem Gebäude zu verbringen, aber es gibt im Moment nichts anderes für mich zu tun. Ich muss geduldig sein.
In den letzten Wochen haben die anderen mir beigebracht, wie ich mich in dem Club zu verhalten habe. Sie haben mir gezeigt, wie ich mich zu bewegen habe, um den Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen und mich in allem unterrichtet, was ich wissen muss. An der Stange zu tanzen ist eine Art Kunst und Sport. Obwohl ich den Dreh noch nicht raushabe und nicht die beste bin, mache ich meine Sache ganz gut. Ich hatte schon einige Kunden und auch wenn sich mir bei jedem einzelnen der Magen umgedreht hat habe ich reichlich Geld eingebracht. Geld, mit dem er mir Dinge besorgt hat, die ich haben wollte. Mein Zimmer ist nun voller Bücher, Plüschtiere, Klamotten und diverser anderer Dinge, die ich gerne wollte. Sogar ein großer Spiegel, ein Sitzsack und Lichterketten befinden sich nun in dem ehemalig kalten Raum. In meiner freien Zeit lese und lerne ich, um nicht zu verblöden. Er hat mir sogar ein Tagebuch besorgt, in welches ich alles reinschreibe und in dem ich alles dokumentiere was hier passiert. Es gibt mir eine Art von Komfort und Wohlgefühl und vielleicht wird es mir eines Tages nützlich sein. So wohl ich mich im Moment auch in meinem Zimmer fühle, habe ich nicht vor für immer zu bleiben. Mit jedem Tag vermisse ich meine Familie mehr und mehr. Mit jedem Tag frage ich mich immer öfter und öfter, ob sie nach mir suchen und ob sie mich finden werden. Sie zu vermissen wird immer schmerzhafter und endloser. Ich frage mich, wie es ihnen geht und wie sie mit meinem Verschwinden klarkommen.
Eine Sache hat sich geändert.
Ich denke nicht mehr so viel nach.
Ich erledige meine Arbeit, konzentriere mich auf mich selbst und lege Geld beiseite, denn ich werde es brauchen, wenn ich hier rauskomme. Es interessiert mich nicht mehr, was Leute über mich denken. Einige neue Tattoos sind dazu gekommen und irgendwie bin ich süchtig nach dem Schmerz, welchen die Nadeln mir geben, geworden. Mir ist es egal geworden, wie rein oder niedlich ich aussehe. All diese Gedanken, die ich am Anfang hatte, liegen nun so weit entfernt, dass sie mir unmöglich vorkommen.
Wenn ich meinen Kopf ausschalte, komme ich leichter voran. Meine Gedanken hindern mich nicht mehr daran das hier auszustehen. Es ist irgendwie traurig, dass ich mich an die Situation gewöhnt habe, aber zumindest drehe ich nicht durch.
Mit ihm ist es immer noch dasselbe.
An manchen Tagen schaut er mich so an, als würde er mich so verstehen wie kein anderer. Als wüsste er genau, was mir durch den Kopf und das Herz geht. Er ist so neutral, dass er fast schon nett ist und manchmal behandelt er mich vernünftig. An anderen Tagen ist er fürchterlich gemein. Er bringt mich bis an die Spitze und jagt mir Tränen in die Augen, lässt mich allein und beängstigt mich, weil er immer noch so einschüchternd, wie am Anfang ist. Manchmal behandelt er mich so, als wäre ich nichts wert und manchmal stellt er mich an oberste Stelle und beschützt mich mit allem, was er hat.
Er passt immer noch auf mich auf. Er bringt mich shoppen, wenn ich wieder neue Klamotten brauche, geht mit mir essen, weil ich sonst nicht daran denke meinen Magen zu füllen, lässt sich Tattoos mit mir stechen, da wir beide Spaß daran finden. Er ist sogar bei den Arztterminen dabei die ich mit den Privaten Ärzten von Pablo habe. Sowas erfordert dieser Job leider und da ich nicht zu einem staatlichen, normalen Arzt gehen kann, werde ich von eingeweihten Ärzten regelmäßig untersucht.
In all dieser Zeit habe ich realisiert, wie ernst die ganze Situation wirklich ist. Es ist keine Simulation, kein Puppenhaus, in dem ich stecke. All das ist real. Mehrmals habe ich mitbekommen, wie er eingreifen musste. Ich habe ihn in verschiedenen Lagen gesehen. Alle davon waren aggressiv und Angst einflößend. Deshalb versuche ich immer noch vorsichtig mit ihm zu sein und ihm nicht auf den Schlips zu treten.