Ein letztes Mal

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Alles um mich herum verlangsamt sich. Die Zeit bleibt stehen. Ich vergesse, wie man atmet.

"Hallo?", ertönt seine müde und raue Stimme erneut. Tränen rollen meine Wangen hinab. Ich umklammere das Telefon so, als wäre es alles, was ich hätte. Im Endeffekt ist es alles, was ich habe. Die einzige Verbindung die ich zu meinem Vater haben werde. Zu ihm. Zu Tyler. Zu meiner Mutter?

Ich wünschte ich müsste nichts sagen. In einer anderen Welt, unter anderen Umständen, wenn ich jemand anderes wäre, könnte ich vielleicht einfach nur dastehen und seiner Stimme lauschen, denn es ist genug. Es ist alles, was ich brauche, um zu überleben. Es ist die wärmste Umarmung, das größte Geschenk, das ehrliche Zuhause. Das Einzige, was mir in all diesen Wochen hilft zu überleben. Ich möchte nicht, dass er auflegt. Niemals.

"Dad?" Meine Stimme ist voller Schmerz. Ich bin schwach. So schwach, dass ich mir nicht sicher bin, ob er mich gehört hat.

"Summer?!" Plötzlich ist er hellwach und ich muss lachen. "Summer?!", erwidert er fast schreiend. Ich kann die Erleichterung in seiner Stimme hören und sie steckt mich an. Ich fühle mich fast schon zuhause. "Ja", sage ich und weine so, als hätte er mich in die Arme genommen. Am anderen Ende höre ich ihn weinen. So viele Emotionen befinden sich zwischen ihm, mir und dem Hörer in meiner Hand.

"Du bist es, richtig? Das ist kein kranker Witz? Mein ein und alles, ich wusste, dass du lebst. TYLER! Summer wir haben dich so vermisst!", er spricht so schnell und durcheinander, schreit nebenbei nach Tyler und mir geht das Herz auf. Gleichzeitig spüre ich wie mein inneres bröckelt und zerfällt.

"Ich habe dich so vermisst." Mit der anderen Hand greife ich nach dem Kabel des Hörers. Ich muss mich an etwas festhalten, sonst zwingt mich dieser Schmerz noch in die Knie. Vor lauter Tränen kann ich kaum mehr was sehen.

"Sag mir, wo du bist! Ich komme dich sofort holen!"

Im Hintergrund kann ich hören, wie er sich bewegt, Dinge hin und herschiebt und plötzlich bekomme ich Panik. Meine Augen huschen zu ihm rüber. Wie er dort wie ein Monster steht und reglos auf mich zielt. Die Realität trifft ein.

"Nein! Nein, bitte! Dad, tu nichts! Bitte, hör mir einfach nur zu... Bitte." Erneut schaue ich weg, denn je länger ich zu ihm schaue, desto mehr möchte ich den Fehler machen und meinem Vater alles erzählen. Die Vorstellung, dass mein Vater mich hier rausholen könnte, ist zu verlockend.

"Summer, sag mir sofort, wo du bist. Ich komme! Wirst du bedroht? Bist du allein?", fragt er immer noch weinend. Ich lehne mich gegen die Wand der Zelle und drücke die Augen zu. Seine Fragen machen alles schwerer. Alle Wahrheiten liegen auf meiner Zunge, aber ich muss sie runterschlucken.

"Hör mir bitte zu... Ruf nicht die Polizei. Ich habe nicht viel Zeit, ich wollte dir nur etwas sagen..." Meine Stimme wird immer leiser. Ich werde immer kleiner. Ich halte mir eine Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Neben meiner Trauer und dem unendlichen schmerz nimmt auch Wut Platz.

"Was denn?" Fragt er atemlos. Er klingt entsetzt. Er ist voller Angst. Angst davor, dass ich schon gehen muss und dass ich nicht allein bin. Er weiß, dass ich nicht allein bin. Sonst hätte ich ihm schon alles gesagt was passiert ist. Sonst wäre die Polizei schon auf dem Weg.

Ich wünschte ich könnte ihm alles erklären und ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen muss, aber es wäre gelogen, denn in wenigen Stunden wird er hören, dass ich gestorben bin. Er wird denken, ich habe ihn angelogen. Ich werde für immer eine Lügnerin in seinen Augen bleiben und das kann ich ihm nicht antun. Er würde niemals verstehen, weshalb ich nicht einfach den Mund aufmache.

MondlichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt