Er
"Komm zum Punkt. Ich kann nicht lange bleiben." Meine Stimme ist so kalt, dass ich selbst schon anfange zu frösteln, als ich im Türrahmen stehe und meine Mutter anschaue. Sie sieht genauso heruntergekommen aus wie dieses Haus.
Mit einer Hand auf ihre Hüfte gestemmt und einer Zigarette in der anderen schaut sie mich mit zusammengepressten Lippen an.
Sie wird mich nicht beten hineinzukommen, denn sie weiß, dass ich es nicht werde.
Ich finde es schon schlimm genug, dass ich nach so kurzer Zeit wieder hier bin.
Dieser Ort ist schon lange kein Zuhause mehr für mich. Es ist nur noch ein Kartenhaus voller Erinnerungen.
Sie seufzt. Ich bin genauso wenig erfreut hier zu sein. Alles, was ich will, ist zu wissen, wieso sie mich so dringend herbestellt hat. Danach verschwinde ich und muss ihr Gesicht vorerst nicht mehr sehen.
"Laurent kommt zurück nachhause für Thanksgiving und wird bis Weihnachten bleiben." Sie spricht die Worte aus, als würden sie nichts bedeuten, denn vielleicht tun sie das auch nicht. Doch meine Welt hört auf sich zu drehen. Ich spüre ein Zucken in meinem linken Auge.
Gott, auch wenn wir keine Bindung zueinander haben, bitte ich dich darum, dass es nur ein Witz ist oder ich es falsch verstanden habe.
Wollen die beiden mich mental umbringen? Er ist der letzte den ich sehen will. Allein seinen Namen zu hören, wirft mich so sehr zurück, dass ich mich unwohl in meiner eigenen Haut fühle.
Das war mal. Ich muss mich nicht mehr so fühlen. Ich bin kein Kind mehr.
Ich atme tief durch und schaue ihr mit gesenkten Lidern in die Augen. Mein gelangweilter Blick spricht Bände.
"Und?", frage ich sie.
Ich muss ihn nicht sehen. Das er hier ist wird nichts für mich ändern. Gar nichts. Er bedeutet mir gar nichts mehr und er wird mich auch nicht aus der Fassung bringen können.
Wieso knirsche ich dann mit den Zähnen?
"Wie 'und'? Er ist dein Bruder. Ich möchte, dass wir Thanksgiving und Weihnachten als Familie zusammen verbringen", antwortet sie und klingt dabei fast schon empört. Ich lache laut auf.
"Bitte? Welche Familie? Wovon redest du eigentlich? Sowas gibt es schon lange nicht mehr." Ich lache immer noch. "Seit wann feiern wir irgendetwas zusammen?"
Das letzte Mal, das wir irgendeinen Feiertag zusammen verbracht haben, war vor zwei Jahrzehnten. Sie versucht Familie zu spielen aber dieses Spiel ist schon lange vorbei. Der Faden ist gerissen. Es gibt nichts mehr was uns verbindet.
Laurent hat sich vor Jahren aus dem Staub gemacht, um sich selbst zu retten. Er hat uns im Stich gelassen, während ich auf den Straßen schlief, um Brot mit nachhause zu bringen, weil mein verdammter Vater nicht mehr da war.
Aber er ist der Held. Weil er studiert. Weil er freundlich ist. Weil er sich vernünftig artikuliert. Weil er alle sechs Monate anruft.
Und ich bin der der wie mein Vater ist.
Sie verdreht die Augen.
"Du hast ihn eingeladen, richtig?"
Ich finde es amüsierend, wie sie versucht etwas zu sein, was sie nicht ist. Wie sie versucht aus ihrem Leben etwas zu machen, was es nicht ist.
"Natürlich habe ich das. Er hat endlich Ferien und die möchte er mit seiner Familie verbringen."
Ich bin kurz davor durch die Decke zu gehen. Blitzschnell kocht mein Blut zu einem Grad, an dem es fast evaporiert. Meine Atmung geht schneller. So langsam verliere ich die Geduld.