Pfade der vergessenen

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Der Morgennebel lag wie ein Schleier über dem Waldboden, der sich endlos vor Shiwon ausbreitete. Jeder ihrer Schritte auf dem moosigen Boden war gedämpft, als würde der Wald selbst ihre Anwesenheit sanft in sich aufnehmen. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich mühsam durch die dichten Baumkronen und tauchten den schmalen Pfad, der vor ihr lag, in ein zartes goldenes Licht. Die sanften Klänge der zwitscherten Vögel, spendeten ihr ein wenig Trost auf diesem schwierigen Weg.

Dieser Weg ist nicht mehr derselbe wie damals, als sie versuchte, seinen Körper fortzutragen. Während andere diesen teils zugewachsenen Trampelpfad nicht einmal erkennen würden, konnte Shiwon ihn mit geschlossenen Augen entlanglaufen. So tief sind ihre Erinnerungen an jeden Stein und Baum verwurzelt. Sie konnte das Gewicht noch immer auf ihren Schultern spüren.

Vereinzelte Sonnenstrahlen küssten sanft ihre Haut, doch auch die vermochten es nicht, die eisige Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Gänsehaut breitete sich auf Shiwons blasser Haut aus, umso tiefer sie in den Wald lief. Nicht mehr lange und ich bin da.

Früher war der Wald für sie beängstigend gewesen. Ein riesiges, düsteres Labyrinth, wo sie nie wusste, welche Gefahren hinter dem nächsten Baum auf sie wartete. Doch mit der Zeit hatte sie diesen Wald zu lieben gelernt. Sie kannte sich nun in diesem Wald aus, als wäre es ein Teil ihrer Hütte. Vielmehr fürchtete sich inzwischen vor der Zivilisation. Der Stadtlärm, der Dreck und die Boshaftigkeit der Menschen wollte sie sich einfach nicht mehr aussetzen. Sie hatte genug davon. Bis heute hatte sie es nie bereut.

Der Duft von feuchtem Holz erfüllte ihre Nase. Ein bekannter Geruch, der sie normalerweise in Sicherheit wiegte. Jetzt stimmte er sie eher traurig. Unterstrich ihre Gefühlswelt für den heutigen Tag. Ihre zittrigen Hände umklammerten den Strauß Vergissmeinnicht. Diese wunderschöne Blume stand für Treue und ewige Liebe. Es gab unzählige Geschichten, weshalb diese Blumen ihren Namen trug. Shiwon selbst musste dabei immer an die Liebenden denken, die auf tragische Weise getrennt wurden. Diese Blume sollte den anderen dabei helfen, ihn nie zu vergessen. Ironischerweise wuchs diese Pflanze an dem Ort, wo er starb. Fast so als ob er selbst sagen würde: Vergiss mich nicht, Shiwon. Ich bin immer noch bei dir.


Jannik. Ich könnte dich nie vergessen. Mit brennenden Augen betrachtete sie die Blumen, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Weg vor sich lenkte. Nicht mehr lange und sie würde ihr Ziel schon bald erreichen. Mit jedem Schritt wurden ihre Bewegungen schwerfälliger, als würden sie sich in Zeitlupe bewegen. Die bekannte Kurve war die letzte Hürde.

Wie in einem Zauberwald begannen die dichten Baumreihen langsam zu weichen und gaben den Blick auf eine majestätische, alte Fichte frei. Ihre mächtigen Äste breiteten sich wie die Arme eines weisen, alten Riesen aus, der über den Wald wachte. Die Sonnenstrahlen brachen durch das Dickicht der Baumkronen und hüllten die Fichte in ein warmes, goldenes Licht. Sie schien förmlich zu leuchten, als würde sie die geheimen Geschichten dieses Ortes in sich tragen und den stillen Frieden ihres kleinen Reiches bewahren.

Shiwon blieb stehen und betrachtete diese Szenerie. Ein sanftes Lächeln huschte auf ihre Lippen. Ihr Blick wanderte von der Baumspitze über die Äste abwärts und blieb bei einem Holzkreuz hängen. Es ragte einsam aus dem Boden, ein stiller Wächter über die verlorene Seele, die dort ruhte. Sie verbeugte sich vor dem Baum, lief ein paar Schritte und verbeugte sich erneut. Diesmal direkt vor dem Grab.

„Guten Morgen, mein geliebter Ehemann. Ich wünsche dir alles Gute zum Hochzeitstag." Sie kniete sich nieder und strich sanft über das Kreuz, während sie sprach. Die mitgebrachten Blumen legte sie neben das Kreuz. „Ich wünschte, du könntest mich umarmen oder mir einen Kuss auf die Stirn drücken, wie du es sonst immer getan hast.", bitter lachte sie auf. Das Lächeln auf ihren Lippen verschwand und ihr Herz schmerzte, als sie das Grab anblickte.

„Deine Eltern hatten recht, als sie meinten, ich wäre verflucht. Jetzt habe ich schon zum zweiten Mal den Menschen verloren, den ich über alles liebe", sie schwieg eine Weile. „Dein Tod ist meine Schuld, Jannik. Ich frage mich oft, wie dein Leben gewesen wäre, wenn du dich nicht in mich verliebt hättest. Hättest du eine normale Frau geheiratet, hätten dich deine Eltern vielleicht nie verstoßen. Nur weil du eine Frau liebst, die auch Frauen lieben kann. Vielleicht hätte man dir nicht wegen meiner Sturheit den Kopf zertrümmert. Deine Leiche würde dann nicht in einem vergessenen Waldstück liegen, bestückt von einem mickrigen Grabstein."

Stille. Nur das leise Zwitschern der Vögel hallte weiter durch den Wald.

„Ich weiß, dass du mir jetzt wahrscheinlich widersprechen würdest. Genauso wie Jake. Ihr beide würdet euch sicher gut verstehen. Na ja, zumindest, wenn es um Themen geht, die mich betreffen oder wenn es darum geht, Rätsel zu lösen."

Mit einem Finger wischte sie sich eine Träne weg. „Nachher werde ich Jake einen Strauß Spinnenlilien bringen. Ich glaube, das ist eine passende Blume für diesen Abschied. Passend, um dieses grausame Kapitel in meinem Leben zu schließen", sie dachte daran, wie sie den Strauß bestellt hatte. Shiwons Magen begann an zu schmerzen, als sie daran dachte, wie sie diesen Strauß auf Jakes Grab legen würde. Ich darf nicht vergessen, sie später im Blumenladen abzuholen.

Die Wärme der Sonnenstrahlen verschwand, als dunkle Wolken sich bedrohlich am Himmel auftürmten und das Licht verschluckten. Der Duft von nahendem Regen kroch ihr in die Nase. Shiwon blickte nach oben und sah den schweren, dunklen Wolkenteppich, der sich über ihr zusammenzog. In ihrem Inneren wusste sie, dass es bald anfangen würde zu regnen – es würde nicht mehr lange dauern, bis der Sturm losbrach.


Sollte es wirklich regnen, würde die schwarze Lederjacke ihr zumindest ein wenig Schutz bieten. Phil hatte ihr diese Jacke geschenkt, was ihr zusätzlichen Halt für diesen Tag gab. Unter der Jacke trug Shiwon ein schlichtes, weißes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Der leichte, angenehme Stoff gab sanft jeder ihrer Bewegungen nach – auch dieses Kleid war ein Geschenk von Menschen, die sie über alles liebte. Ihre schwarzen Stiefel hingegen hatte sie sich selbst gekauft. Diese langjährigen Begleiter hatten sie immer sicher nach Hause gebracht.

Sie schloss ihre Lider und genoss das Rauschen der Bäume. Noch immer sangen die Vögel, als ob sie gegen den Sturm ankämpfen wollten. Als wollten die Vögel, Shiwon noch ein wenig mehr Zeit verschaffen. Doch das vibrierende Handy in ihrer Tasche riss sie aus dem Moment. Widerwillig öffnete sie die Augen, ließ eine Hand in ihre Umhängetasche wandern und zog das störende Gerät heraus. Seufzend sah sie nach, wer ihr geschrieben hatte. Es war natürlich keine andere als Jessy. Sie überflog die Nachrichten nur schnell, da sie alle dasselbe fragten: Shiwon wo bist du? Ich stehe jetzt am Treffpunkt. Schreib mir bitte.

Frustriert steckte sie das Handy weg. Eigentlich waren die beiden erst in einer halben Stunde verabredet gewesen, doch wie zu erwarten, war Jessy zu früh da. Dabei hatte Shiwon extra geschrieben, dass Jessy nicht zu früh da sein sollte. Schließlich wollte sie sich Zeit nehmen, um ihre Gefühle freien Lauf zu lassen. Jessy selbst schien der Sturm zu sein, der über sie hereinbrach. Gezwungenermaßen stand Shiwon auf, klopfte das Kleid ab und verbeugte sich ein weiteres Mal vor Janniks Grab. „Bitte entschuldige mich, mein Liebster. Man erwartet mich. Ich werde mir das nächste Mal mehr Zeit nehmen. Versprochen."

Ihre Stimme bebte, genauso wie ihre Hände, die sie kurz auf ihrem Mund legte und dann auf das Kreuz drückte. Es war eine Art Abschiedskuss, ein Ritual, welches Shiwon jedes Mal durchführte. Sie nahm einen letzten, tiefen Atemzug, bevor sie sich umdrehte und langsam den Weg zurücklief, den sie gekommen war.

Diesmal würde sie aber nicht den kompletten Weg gehen. Ihr Ziel war schließlich Duskwood.

Duskwood: Das dunkle HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt