POV: Manu
Der Herbst ist vorbei. Zierlos und regnerisch ist der Oktober geplatzt und verschwunden. Und mit ihm die Ungewissheit. Ich sitze in einem Zug, weg von dem einzigen Ort, an dem ich jemals zuhause war.
Mama schickt mich zu meiner Tante, bei der ich wohnen muss, bis meine Familie wieder normal ist.
Meine Augen brennen. Aber ich will nicht heulen. Nicht wegen sowas.
Natürlich ist es kindisch, mich zu fühlen, als würde ich verbannt werden. Dennoch läuft das Wort Runden in meinem Kopf. Verbannt. Verbannt. Verbannt. Verräter.
Mama findet, sie hat guten Grund, mich rauszuwerfen.
Das mit den Drogen hat irgendwann im letzten Jahr angefangen. Meine Brüder sind schon immer waghalsig gewesen, und wir alle haben Geheimnisse geteilt, von denen unsere Eltern nichts erfahren durften. Auch ich, als Jüngster und Ruhigster, bin immer Mitwisser gewesen. Gott, wie erwachsen ich mich gefühlt habe.
Am Anfang hat es Spaß gemacht, zuzusehen, wie sie herumprobieren. Neue Sachen sind immer aufregend, besonders weil keiner von ihnen mir je erzählt hat, wo sie das Zeug herkriegen. Mittlerweile weiß ich, dass sie es einfach von einem Typen aus unserer Schule gekauft haben. Keine dunklen Parks, nicht einmal ein älterer Mann. Nur ein Neuntklässler.
Ich habe gespürt, als der Spaß zur Sucht wurde. Natürlich hätte ich es Mama sagen sollen. Hab ich aber nicht.
Ich habe es einfach geschehen lassen. Erst kam das Stadium, in dem ich sie Suchtis genannt habe. Wo es witzig war, weil es wahr war. Besorgniserregend, aber nicht schlimm. Und dann wurden aus Suchtis Abhängige.
Ein paar Monate habe ich noch die Klappe gehalten, dann habe ich es Mama gesagt. Was folgte, war genau die Ungerechtigkeit, die ich erwartet hatte.
Für meine Brüder bin ich jetzt ein Verräter, der Mama in unsere brüderliche Burg aus Geheimnissen gelassen hat. Sie sagen, sie hätten es ohne Hilfe in den Griff bekommen. Es sei alles nicht so schlimm.
Für Mama bin ich ein verantwortungsloser Lügner, der die Familie in den Ruin getrieben hat, weil ich es hätte früher sagen müssen. Weil Entzugskliniken teuer sind, und angeblich nur deshalb nötig, weil sie erst so spät von den Drogen erfahren hat. Sie tut, als sei meine Verantwortung größer als die meiner Brüder.
Egal wie wütend sie aufeinander sind, in einer Sache sind sie sich einig. Ich bin schuld. Mit einem sauberen Schnitt trennen sie mich heraus aus ihrer Familie, aus dem vertrauten Gesamtbild in dem ich das Leben kennengelernt habe. Es fühlt sich fast an, als würden sie mich aus mir selber heraustrennen wollen.
Der Zug rattert und zuckt unter meinem müde gesessenen Hintern. Ich ziehe die Beine an die Brust und stelle die Schuhe auf den Rand meines Sitzes. Der einzige andere Fahrgast rümpft die Nase, und ich starre solange zurück, bis er sie wieder in seiner Zeitschrift vergräbt. Ein Zug, den keiner benutzt, kann ruhig schmutzige Polster haben.
Die Landschaft draußen wird kahler, voller Fabriken und Beton, und Häusern die daliegen wie verwundete Vögel. Der Mann steigt aus, kurz bevor es trostlos wird. Meine Kopfhörer drücken meine Ohren schmerzhaft platt gegen die Seiten meines Kopfes. Gräulich spiegelt sich mein Gesicht in der Fensterscheibe. Eigentlich sind es Peters alte Kopfhörer. Meine Zähne knirschen. Ich schiebe einen Schokoriegel dazwischen.
Ich weiß, ich bin erbärmlich. Aber genau so fühle ich mich auch. Erbärmlich, verstoßen und mutterseelenallein. Auf dem Weg zu Mamas Schwester, die sie selbst seit Jahren nicht gesehen hat. Ein Internat wäre mir lieber gewesen, aber das Geld, was das kostet, brauchen wir für den Entzug. Bei Hannah kann ich gratis bleiben.
Ich weiß kaum was über das Dorf, in dem sie wohnt. Nur, dass es am Meer liegt und Shaftesbourne heißt. In meinem Kopf wird es zu einem stinkenden Haufen von Holzhütten im Schornstein einer Fischfangfabrik. Sicherlich wird es Fisch zum Abendessen geben.
Ich weiß, dass ich kindisch bin. Dass ich es ihr nicht einfach mache, mir zu gefallen. Aber ich habe sie mir nicht ausgesucht. Ich will nicht zu ihr. Ich will eine Familie haben.
Es ist egal, was ich will.
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Weg vom Fenster - #Kürbistumor
FanfictionNachdem die Drogenabhängigkeit seiner Brüder herauskommt, will Manu eigentlich nur bei seiner Familie sein. Doch genau die verbannt ihn, in ein kümmerliches Fischerdorf am Arsch der Welt, zu seiner Tante. Sein einziger Lichtblick: Der Junge von nebe...