POV: Patrick
Ich bin mit tauben Armen und Kopfschmerzen aufgewacht, aber nachdem ich mich gestreckt und einen Liter Wasser herunter gekippt hatte, ging es mir gut. Robin bei mir zu haben hat mich beruhigt. Eine Weile hat sie noch geschlafen, und ich habe neben ihr im Bett gesessen und gelesen, aber als sie aufgewacht ist, war sie schnell weg. Wollte joggen gehen und den Rest des Tages mit ihrer Mom verbringen.
Als ich wieder alleine bin, fange ich an zu heulen. Nicht, weil ich traurig bin, sondern weil es jetzt mal raus muss. Wegen all den Malen in den letzten Tagen, die ich hätte heulen müssen und es nicht getan habe.
Als ich fertig bin, fühle ich mich leer und seltsam. Wie ein Puzzleteil, das fast passt, aber nicht ganz, und trotzdem in die Lücke gezwungen wurde. Ich brauche eine Minute, um mich selbst auch zum Laufen gehen zu überreden.
Der Bund meiner Sporthose flabbert wirklich hässlich um meinen Bauch herum, als ich das Haus verlasse. Naja, wer sieht beim Joggen schon gut aus.
Am Anfang höre ich noch jedes Kiesknirschen unter meinen ungelenken Schritten, aber als ich die Auffahrt und den Asphalt hinter mir gelassen habe, finden meine Füße auf den trockenen Trampelpfaden einen festen Rhythmus. Mein Körper kennt den Weg, und mein Hirn findet ruhige Beschäftigung.
Das Mädchen, das ich gestern in Hannahs Fenster gesehen habe, muss Hannahs Nichte sein. Ich sollte nichts davon wissen, aber Gerüchte verbreiten sich hier schnell. Besonders so skandalöse. Drogensucht. Hannah selbst hat es mir natürlich nicht erzählt, aber irgendwie erfahren es immer alle.
Meine Beine tragen mich die höchste Klippe nach oben. Ihr äußerster Punkt ist die Stelle in meiner Route, an der ich wende und zurückjogge. Hier sind oft Spaziergänger, aber jetzt, auf mich zugehend, sehe ich das Mädchen aus dem Fenster. Und als ich näher komme, mit pfeifenden Lungen und rot-gelaufenen Wangen, bemerke ich, dass "sie" kein Mädchen ist.
Er hat langes dunkles Haar, schmalen Körperbau, geduckten Gang und blasse Haut. Ein bisschen wie aus einem Vampirroman. Nur seine Augen sind verquollen, als hätte er wirklich schlecht geschlafen.
Mir zuckt der Gedanke durch den Kopf, dass Robin ihn nicht mögen würde, aber Robin fällt generell schnell Urteile. Und ich will ihn kennenlernen.
Bevor der Neue realisieren kann, dass ich ihn gleich ansprechen werde, kniet er sich hin um seine Schuhe neu zu binden. Unbemerkt bleibe ich vor ihm stehen und warte, bis er wieder hochkommt. "Na?"
Meine Überraschung scheint geglückt. Er starrt mich so perplex an, dass ich nicht einordnen kann, ob er nur überrascht oder einfach unfreundlich ist. Und er scheint mir nicht antworten zu wollen.
"Ich bin Patrick. Von nebenan. Machst du Urlaub hier?"
Seine Versteinerung löst sich. "Wenn man es so nennen will." Die Art, wie er das sagt, bringt mich aus dem Konzept.
"Und wie nennst du es?"
Er starrt mich eine Weile an, bevor er antwortet. Seine Augen sind auffällig grün. Stechend grün. "Verbannung?"
Ich muss lachen. So habe ich den Ort noch nie gesehen, aber geeignet ist er wohl. Wenn man einmal hier ist, kommt man nur schwer weg. "Wenn das hier Verbannung ist, bin ich eingesperrt aufgewachsen."
Er schnaubt, aber er lächelt dabei. Sein Gesicht ist so zart, dass er gar nicht von hier kommen kann, und etwas an ihm wirkt kalt und abweisend, und dennoch so lebhaft, dass es mich ansteckt. "Langzeitgefangenschaft klingt nach Sicherheit." Das Lächeln in seinem Gesicht wächst zu einem Grinsen heran. "Du findest Zugehörigkeit bei den Spießern. Es ist keine Verbannung, wenn es familiär ist."
Ich denke an mein Elternhaus und lasse den spielerischen, provokanten Tonfall weg. "Die Sicherheit ist hart erarbeitet. Und Hannah wird dich nicht rausschmeißen."
Er hebt nur die Brauen. Schmale, dichte Brauen mit ausdruckslosem Schwung, die seinem Gesicht etwas Kindliches geben, während der Rest von ihm seltsam erwachsen aussieht, für einen Jungen im Schulalter.
Ohne es zu merken habe ich umgedreht, wo ich immer umdrehe, und den Weg zurück eingeschlagen. Der Junge geht immer noch neben mir. "Hannah ist nett, und du bist erträglich", erkläre ich ihm meinen Kommentar. "Hat sie dir etwas von mir erzählt?"
Der Sonnenuntergang lässt seine Haare rötlich glänzen. "Gibt es da etwas, was sie hätte erzählen sollen?"
"Eigentlich nicht."
Er lächelt. "Dann hat sie mir auch eigentlich nichts erzählt. Ich muss hier runter."
"Und du willst mir nicht sagen wie du heißt?"
Er verdreht die Augen. "Manuel. Tschüss, Patrick."
Unsere Wege trennen sich, und gegen meinen Willen muss ich lächeln.
Das Ding ist nämlich: Jeder sieht mich.Natürlich weiß ich, dass es dabei nicht um mich geht, sondern um meinen Vater, oder vielmehr die Firma meines Vaters. Aber jeder weiß, was passiert ist. Jeder kannte mich als verwöhnten Schnösel. Reichesten Jungen des Dorfes, der nicht checkt, dass nicht alle Dreizehnjährigen ihr Zimmer von einer Haushälterin aufgeräumt bekommen. Dann kannte mich jeder als hilfloses, ständig heulendes vierzehnjähriges Nervenbündel, das nicht damit klarkam, dass seine Traumwelt geplatzt war. Das nicht verstehen konnte, dass Eltern auch streiten, und dass man durchaus ohne Luxusurlaube leben kann. Dass man nicht jedes Problem mit Geld und Lügen lösen kann.
Beide Phasen waren peinlich.
Heute hat das ganze Dorf einen Blick auf die Aktien der Firma meines Vaters. Beobachtet ihren Einbruch. Tuschelt, wenn er Shampoos auf Vorrat kauft, weil es im Angebot ist. Und merkt, dass er näher und näher an seinen absoluten Zusammenbruch kommt.
Jeder sieht meine Familie, und jeder sieht mich. Jemanden hier zu haben, der keine Ahnung hat, wer ich bin, birgt eine Chance, die ich nicht verpassen will.
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Weg vom Fenster - #Kürbistumor
FanfictionNachdem die Drogenabhängigkeit seiner Brüder herauskommt, will Manu eigentlich nur bei seiner Familie sein. Doch genau die verbannt ihn, in ein kümmerliches Fischerdorf am Arsch der Welt, zu seiner Tante. Sein einziger Lichtblick: Der Junge von nebe...