2- Jedermanns Business

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~ Rafael's Sicht ~



Kurz nachdem ich mich von Bastian verabschiedet hatte und ihn nicht mehr sah, seufzte ich laut.


Das Thema des Streamens war eines der Themen, die ich am liebsten nicht mehr besprechen würde.


Ich weiß, dass Bastian nichts lieber tun würde, als seine Leidenschaft mit der ganzen Welt zu teilen, aber mir war das noch viel zu riskant.


Nach unserem Abschluss würde ich eine Ausbildung beginnen und er mit dem Abitur anfangen. Hätten wir dann überhaupt noch Zeit dafür? Was wäre dann wichtiger? Würde das in unserem neuen Umfeld akzeptiert werden? Ich wusste nicht einmal, ob das in unserem aktuellen Umfeld gut aufgenommen würde.
Und weil die ganzen Gedanken um Akzeptanz und Zukunft noch nicht genug waren... Was würde passieren, wenn jemand auch nur den Verdacht schöpfen würde, dass ich Bastian mehr mag als einen besten Freund?

Homosexualität wurde von unserer Schule, unseren Freunden und Familien verachtet. Ironisch, wenn man bedenkt, dass wir in Berlin, der offenen Stadt, sind. Ich wäre verloren. Nicht nur mein Umfeld würde mich hassen, er würde mich hassen.
Und ihn ganz zu verlieren will ich auf gar keinen Fall.
Ich war eigentlich immer derjenige, der unbeschwert war und sich nicht viele Gedanken machte, doch wenn es um Basti geht, ist er ständig in meinem Kopf.

Basti ist mein Spitzname für ihn, aber ich nenne ihn nie so.
Das einzige Mal, dass ich diesen Namen benutzt habe, war am Anfang der Schulzeit.
Ich war neu in der Gegend und er ein Außenseiter.
So kam es, dass er in der ersten Woche zusammengeschlagen wurde, als er den großen Jungs, Faister, Hugo und Fabo, sein Essensgeld nicht geben wollte. Er sah ziemlich übel aus und obwohl wir bis dahin nur wenige Worte gewechselt hatten, war ich bereits so verliebt, dass ich nur diesen Namen flüstern konnte, als ich über ihm kniete.
Von da an waren wir beste Freunde, aber den Namen erwähnte ich nie wieder, außer in meinen Gedanken und Träumereien.


Durch diese Gedanken wurde mir plötzlich bewusst, dass ich schon in meinem Zimmer war.

Meine Eltern waren wie immer nicht zu Hause, da sie noch arbeiteten, und Basti war vermutlich mit seiner Idee beschäftigt. Also entschied ich mich, erst einmal etwas zu essen zu machen und auf YouTube herumzustöbern.



~ Bastians Sicht ~



Mit schnellen Schritten kam ich wenige Minuten später schon an meinem Haus an.

Ich schloss voller Vorfreude die Haustür auf und stürzte mit einem kurzen ‚Hallo' an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer. Ohne Mittagessen setzte ich mich an meinen Laptop, um gleich damit zu beginnen, mich schlau zu machen, was das beste Equipment für unser Vorhaben wäre.


Erst als meine Mutter an meine Zimmertür klopfte und mir einen liebevoll angerichteten Teller Nudeln auf den Tisch stellte, bemerkte ich, wie spät es eigentlich schon war.
Ich bedankte mich umgehend bei ihr und hatte ein wenig Schuldgefühle, da sie alleine essen musste.
Seitdem mein Vater uns verlassen hatte, aßen wir immer zusammen und um das wieder gut zu machen, erzählte ich ihr mit vollem Mund von Rafaels und meinem Plan.
Sie freute sich über die neuesten Fortschritte, da sie meinen Traum schon immer unterstützte. Sie war einfach die Beste.
Als ich fertig gegessen hatte und meiner Mutter eine gute Nacht wünschte, schloss ich auch meinen Laptop für heute.

Rafael war sicher schon am Schlafen, weshalb ich ohne ihm noch einmal über meine neuen Erkenntnisse zu schreiben, ins Traumland fiel.



~ Rafael's Sicht ~



Bis zum Abend sah ich mir die verschiedensten YouTube-Videos an, bis ich plötzlich den Türschlüssel hörte und kurz darauf meinen Vater, der mich beim Eintreten sofort zu sich rief.
Sofort wurde mir wieder unwohl im Magen. Meine Eltern waren nicht schlecht. Sie haben mich nie geschlagen oder ähnliches, dennoch waren sie ziemlich streng, was meine Zukunft und mein Leben betraf.
Außerdem sah ich sie kaum. Meine Mutter war seit Monaten bis spät in die Nacht weg, doch ich wusste nie, warum. Mein Vater wollte einfach kein Stück vom Haushalt übernehmen, wenn er spät von der Arbeit kam. Er zog sich um, machte ein Bier auf und setzte sich vor den Fernseher.
In unserer kleinen Altbauwohnung war schon lange kein familiäres Gefühl mehr vorhanden.



Nachdem ich die Rufe meines Vaters noch einmal strenger hörte, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und sprang auf, um zu ihm zu gehen.
Beim Laufen fiel mir auf, dass auch ich heute gar nichts getan hatte. Weder hatte ich die Wäsche gemacht und gesaugt, noch hatte ich schon mit dem Essen begonnen. Das würde Ärger geben...


Als ich im Wohnzimmer ankam, sah ich das ernste Gesicht meines Vaters. Doch heute war etwas anders. Er war noch bedrohlicher als sonst.


„Warum wurde hier noch nichts erledigt? Kann man nach der Arbeit nicht einmal erwarten, in ein fertiges Zuhause zu kommen? Nicht einmal Essen steht auf dem Herd. Ich arbeite jeden Tag hart, um uns diese Wohnung zu ermöglichen, und was ist der Dank? Eine untreue Frau und ein Nichtsnutz als Sohn."


Ich war perplex. Meine Mutter, untreu? Nichtsnutz? Warum war er plötzlich so böse?


„Was guckst du so dumm? Ja, deine Mutter hat sich verpisst. Wahrscheinlich, weil du nichts kannst. Ich erwarte, dass ich nach Hause komme und alles erledigt ist. Wenn du schon deine Fähigkeiten in einer Ausbildung verschwenden willst, dann sei wenigstens in deiner Freizeit nützlich."


-flatsch-


Plötzlich spürte ich es.
Ein Ziehen in meiner Wange und heiße Tränen, die meine Sicht verschwommen machten.


Er hatte mich zum ersten Mal geschlagen und jetzt warf er eine Tiefkühlpizza in den Ofen und schaltete die Glotze ein, als ob nichts passiert wäre.


Es dauerte nicht lange, bis ich, zwar immer noch nicht ganz klar denkend, in mein Zimmer ging.


Tränen lagen auf meiner brennenden Wange, doch ich fühlte in diesem Moment gar nichts.


Basti, meine Mutter, der Schlag, die Erwartungen, die Angst.


All das schrie in meinem Kopf.


Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was passiert war, hörten meine Tränen auf, und ich lag im Bett und schlief nach einer langen Starre ins Dunkle ein.



Liebe auf Sendung ⌨️<3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt