Kapitel 2

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***Triggerwarnung: Verlust einer vertrauten Person***

AAls ich am nächsten Morgen aufwache, drehe ich mich erstmal nochmal im Bett herum. Es ist das erste Mal seit langem, dass ich nicht früh aufstehen muss, sondern etwas Zeit habe. Ich hatte gestern auch meinen letzten Tag in dem Kindergarten, in dem ich meine praxisintegrierte Ausbildung gemacht habe. Eine neue Stelle habe ich noch nicht. Ich bin sehr sparsam und konnte etwas Geld beiseite legen. Nicht viel, aber so, dass ich in Ruhe zwei bis drei Monate überbrücken kann. Da ja gerade ohnehin ein großer Mangel an Fachkräften herrscht, mache ich mir da auch keine Sorgen, etwas Neues zu bekommen. Schließlich stehe ich auf und mache mir in meiner kleinen Miniküche einen Kaffee. Ich schäume mir sogar etwas Milch auf und setze mich dann mit meiner Tasse an den Tisch und schaue ins Leere. Ich fühle mich eigentlich nirgendwo so richtig Zuhause. Auch fällt es mir eher schwer, Kontakte zu knüpfen. Deshalb wäre es schon auch eine Möglichkeit, irgendwo anders nochmal neu anzufangen. Allerdings fühle ich mich tatsächlich auch meiner Nachbarin etwas verpflichtet. Was ich eigentlich gar nicht müsste. Ich trinke meinen Kaffee aus, spüle meine Tasse und mache mich fertig. Mein Kühlschrank ist leer, deshalb beschließe ich, einkaufen zu gehen. Vielleicht kann Ruth ja auch etwas gebrauchen. Ich klingele an der Tür, jedoch öffnet sie nicht. Sonderbar! Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch. Erneut klingele ich und halte meinen Finger einige Zeit auf der Klingel. Immer noch keine Reaktion, mein Herz schlägt schneller. Ihr wird doch nichts passiert sein? Mit zitternden Fingern öffne ich nochmal das Schloss meiner Tür und hole den Ersatzschlüssel. Ich schlucke trocken und drehe den Schlüssel vorsichtig um.

„Ruth!", rufe ich in die Wohnung hinein. Keine Reaktion! Langsam laufe ich ins Wohnzimmer. Auch hier ist keine Spur von ihr. In dem kleinen Badezimmer ist auch nichts zu sehen. Ich schlucke schwer und betrete mit rasendem Herzen das Schlafzimmer. Ruth liegt im Bett. Ihr sonst so fest in einen Dutt gestecktes Haar liegt nun offen in leichten Wellen über ihrem Kopfkissen. Sie sieht so friedlich aus. „Ruth!", spreche ich sie leise an. Ich setze mich neben sie ans Bett. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich nicht mehr. Ihre Hand, die ich sanft in meine nehme, ist kühl. Mein Atem stockt. Ein Schluchzer kriecht aus meinem Hals empor. Ich beiße mir auf die Lippen. Ich verharre noch einen Moment neben Ruth, bevor ich das Zimmer verlasse und einen Notruf absetze und wie auf Autopilot nach einem Bestattungsunternehmen google. Ich setze mich an den Esszimmertisch und warte. Währenddessen überlege ich, was ich über Ruth weiß. Hatte sie Familie? Sie hat nur sehr wenig von sich erzählt, da sie weiß, dass dieses Thema bei mir sehr emotional belegt ist. Ich rufe schließlich unsere Vermieterin an, die hoffentlich mehr Kontakte hat. Ich schildere ihr kurz die Lage. Auch sie ist etwas ratlos, aber verspricht in den Unterlagen nachzusehen. Und jetzt? Ich lasse meinen Blick über den Esstisch gleiten. Man sieht ihm an, dass er bereits einige Jahre auf dem Buckel hat. Jede Rille steht für ein Essen, vielleicht alleine eingenommen, oder mit einem Freund. Jeder Kratzer hat eine Geschichte. Ich spüre, wie der Schock langsam nachlässt und die Trauer einsetzt. Vom gestrigen Eierlikör ist nichts mehr zu sehen. Jedoch liegt ein Bild auf dem Tisch. Ich nehme es in die Hand und betrachte es. Es ist in schwarz-weiß und ziemlich abgegriffen an den Rändern. So, als wäre es oft in die Hand genommen worden. Eine Familie vor einem prunkhaften Haus, eher sogar eine Villa ist darauf zu sehen. Eine glücklich lächelnde Familie steht im Vordergrund. Mutter, Vater und drei Kinder, ein Mädchen und drei Jungs. Alle sind festlich und akkurat gekleidet. Das Gesicht der Mutter kommt mir bekannt vor – das ist Ruth, fällt es mir schließlich wie Schuppen vor die Augen. Und das neben ihr, muss ihr Mann sein. Ruth hatte erzählt, dass sie ihn sehr geliebt hat. Das Klingeln an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich öffne sie und stelle mich dem Rettungsdienst vor. Dann erkläre ich die Situation. Der Notarzt schaut mich einfühlsam an. „Geht es Ihnen gut?" Ich nicke und gehe schließlich wie ferngesteuert in meine Wohnung. Ich lasse mich auf mein Sofa fallen und schaue ins Leere. Erst da bemerke ich, dass ich das Foto immer noch in der Hand habe. Ich mustere es erneut und lege es dann auf den Tisch.

Cinderella in ChucksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt