Kapitel 09

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Es scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit ich hier auf den kalten Fliesen sitze. Als ich mich aufrichte, um mein Gesicht zu waschen und meinen Mund auszuspülen, tun mir all meine Knochen weh.

»Entschuldigung«, murmele ich und schleiche mich an Ben vorbei. Er steht wie angewurzelt an den Türrahmen gelehnt. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber ich schüttle nur stumm den Kopf und bedeute ihm zu schweigen. Mein Kreislauf schreit nach etwas zu essen. Vielleicht nicht die beste Idee, jetzt etwas zu essen, aber der Wein und die emotionale Belastung fordern ihren Tribut.

Auf zittrigen Beinen mache ich mich auf den Weg in die Küche. Im Kühlschrank müssten noch Nudeln und Salat sein. Ben folgt mir schweigend.

Wir plündern den Kühlschrank, ich nehme noch die Kaffeekanne mit und gehen schweigend zurück in meine Galerie.

Mit niemandem lässt es sich so angenehm schweigen wie mit Ben.

In Interviews und auf Social Media ist er laut, witzig und auffallend. Schlagfertig und sich für keinen Spaß zu schade. Ich habe mir das eine Zeit lang gerne angeschaut – vielleicht um mich selbst zu geißeln oder um ihm doch irgendwie nahe zu sein.

Aber mit ihm gemeinsam schweigen...

Wir setzen uns auf den Teppich zurück und Ben fixiert mich mit einem Blick, den ich nicht deuten kann.

»Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen.« Er reibt sich mit den Händen durch das Gesicht und seufzt schwer.

Aus Gewohnheit wollte ich ihn beschwichtigen, sagen, dass alles okay ist. Aber ich beiße mir auf die Lippen. Es ist nicht okay. Es ist nicht okay, weil er damals einfach verschwunden und nie wieder aufgetaucht ist.

Den Schmerz in meinen Augen kann er nicht übersehen und ich weiß, dass er mich gerne in den Arm nehmen möchte.

Er tut es nicht.

Ich nicke und stochere mit meiner Gabel in den kalten Nudeln herum.

»Scheiße, Vianne! Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass ich dich so verletzt hatte. Ich meine, wir hatten uns nach Ewigkeiten wieder gesehen und es hat heftig geknistert. Du kannst mir nicht sagen, dass es nicht schön war... Und ja, im Sinne unserer Freundschaft hätte ich mich melden sollen. Ich hab's verbockt, okay? Aber hätte ich mich gemeldet. Was dann? Ich habe direkt am nächsten Tag meine erste größere Rolle unterschrieben.«

Ben redet und redet.
Er redet sich fast um Kopf und Kragen.

Er hat aufgegeben zu schweigen.

»Sag doch was, Vianne! Ich weiß, dass ich damals ein Arsch war, aber das ist verdammt lange her.«

Er ahnt nicht, dass er nichts mit meiner Panikattacke zu tun hat.

»Ist schon gut, Ben.« Ich verdrehe die Augen.

»Ist schon gut? Willst du mich verarschen? Du brichst zitternd zusammen und kotzt dir dann die Seele aus dem Leib, weil ich dich küsse, und du sagst 'ist schon gut, Ben'

Er tigert durch die Galerie und ist sichtlich aufgewühlt. Seine Hände kneten ineinander und ich kann mir vorstellen, dass er gerade lieber weg wollen würde als hier zu bleiben.

Er kniet sich vor mich.

»Irgendwas ist hier gar nicht gut, Vianne. Und ich will wissen, was - sonst werde ich mein Leben lang denken, dass ich dich damals traumatisiert habe und du wegen mir seitdem was weiß ich was für Probleme hast.«

Ich würde ihm gerne sagen, dass er an nichts Schuld hat. Dass ich ihm nach seinem Abgang zwar gerne den Kopf abgerissen hätte – ja.

Aber das hier?

Das war nicht seine Schuld.

Ich schüttle schweigend den Kopf und knibbele an meinen Fingernägeln.

Ben legt seine Stirn auf meine angezogenen Knie und sucht verzweifelt nach Bestätigung, dass er nicht das Arschloch ist, für das er sich im Augenblick hält.

Wir schweigen wieder.

Sein Kopf liegt auf meinen Knien und ich schaue auf ihn herab. Seine wilden Locken sind inzwischen trocken und stehen gewohnt ungebändigt von seinem Kopf ab. Er atmet flach und ich ahne, dass er nach einer Antwort sucht, die ich ihm nicht geben kann – nicht geben will.

Es ist seltsam. Wir haben zwei Jahre unseres Lebens fast täglich Zeit miteinander verbracht. Ich kenne niemanden so gut wie ihn. Und auch nach all der Zeit fühlt sich dieser Moment vertrauter an als die letzten Jahre meines Lebens.

Ohne weiter darüber nachzudenken, berühre ich seine Haare, fahre mit meinen Fingern hindurch und schließe meine Augen.

Ben brummt leise und seine Hände schließen sich um meine Hüfte. Er dreht seinen Kopf und haucht Küsse auf meine Knie. Sanft. Kaum spürbar. Aber da.

Meine Finger vergraben sich in seinen Haaren, ich spüre seine Locken durch sie hindurchgleiten, während seine Finger beginnen, sich an mir festzuhalten und wie er sich dann zu mir hochzieht, sodass er mir näher ist. Ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht, auf dem er kleine Küsse verteilt, die sich anfühlen wie winzige Schmetterlinge, als suche er Vergebung.
Spüre, wie er immer schwerer atmet, sein Griff an meiner Hüfte sich verfestigt und schlussendlich seine Lippen wieder auf meinen zur Ruhe kommen. Ich würde mich ihm gerne verweigern, aber damals wie heute bin ich ihm komplett verfallen.

Langsam.

Unendlich langsam fährt er mit seinen Lippen die Konturen meiner nach.
Und als ich meine Augen öffne, blicke ich direkt in seine, in denen es Honigfarben funkelt - flüssiges Gold. Mein Herz zieht sich zusammen. Er schaut direkt in mich hinein. Beginnt mich zu küssen, als er merkt, dass ich mich nicht von ihm distanziere. Ich lasse es zu und öffne meine Lippen für ihn.
Dort, wo er mich berührt, hinterlässt er prickelnde Hitze auf mir. Mein Herz pulsiert, aber diesmal nicht wegen einer sich nähernden Panikattacke.

Ich lasse meine Hände langsam von seinen Haaren zu seinen Schultern gleiten, grabe mich in ihnen fest und er schiebt sich noch näher an mich heran. Diese Wärme, die er ausstrahlt, umhüllt mich vollständig und mein Körper will mehr davon.

Als er vorsichtig an meiner Unterlippe knabbert, keuche ich sehnsüchtig auf. Mein Herzschlag beschleunigt sich und eine Welle heißer Vorahnung gleitet durch mich hindurch.

Wie kann ein Kuss sich in so einer falschen Situation so richtig anfühlen?

Ben murmelt an meine Lippen, dass ich jederzeit aufhören kann, aber ich schüttle nur stumm den Kopf. Er schließt seine Augen fast verzweifelt und seine Zunge dringt erneut in mich hinein. Umspielt meine.
Erforscht meinen Mund, kostet mich.
Er küsst mich, als hätte er sich nie etwas sehnlicher gewünscht und ich will ihm geben, wonach er sich sehnt.

Seine Lippen lösen sich den Bruchteil einer Sekunde von meinen, ein leichtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel und ehe er sich wieder in meine Lippen versenkt, wispert er leise:

»Hey, Füchschen.«

IrgendwannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt