Kapitel 08

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Ben schaut mir in die Augen. »Eigentlich ist es fast wie früher, nur dass wir nicht mit dem Fahrrad nebeneinander herfahren.« Schmunzelt er in meine Richtung. Seine Augen sehen müde aus.

»Ich habe eine Trennung und Vianne ist da.«

Wir schweigen einen Moment und ich versuche, das Gesagte einzuordnen.

»Und bei dir?« Ben schaut mich direkt an, aber ich verstehe die Frage im ersten Moment nicht.

»Mann, Haus, Kind? Was hast du die letzten Jahre getrieben?« Bens Finger umfassen sanft meine Waden und ich glaube, wenn das so weitergeht, sterbe ich. Seine Berührungen lösen in mir immer noch dieselben Gefühle aus. Seine Hände sind noch immer so weich wie bei unserem ersten Treffen. Mein Herz zieht sich zusammen.

»Nichts davon. Ich lebe seit acht Jahren wieder in New York, arbeite, zeichne und wohne in einer kleinen Einzimmerwohnung auf der anderen Seite der Stadt und habe den Männern abgeschworen.«

Ben zieht seine Augenbrauen hoch. »Aber Frauen?« fragt er lachend und der Griff um meine Waden wird etwas fester.

»Nichts. Ich habe genug mit mir selbst zu tun.« Ich versuche, entspannt zu klingen. Aber seit wir uns am Taxistand begegnet sind, ist nichts entspannt. Vor allem ich nicht.

Mit einem Ruck zieht Ben mich näher an sich, meine Knie sind nun angewinkelt und zwischen uns ist weniger Abstand als vorher. Mir wird schwindelig und ich habe das Gefühl, wegrennen zu wollen.

»Du willst mir sagen, dass du seit acht Jahren in dieser riesigen Stadt alleine bist?« Bens Miene wird weich, fast mitleidig – was mich schon wieder nervt. Was heißt denn alleine? Ich habe ein paar Freundinnen, ich gehe aus und wenn ich Lust habe, dann findet sich auch jemand.
Ich will nur niemanden mehr näher als nötig bei mir haben. Ich will nicht irgendwann erklären müssen, wieso ich nur schlafen kann, wenn meine Tür verriegelt ist, wieso ich manchmal aus dem Nichts anfange zu weinen und wieso ich lieber viel Geld für Taxen ausgebe, statt mit der Metro zu fahren.

»Ich bin nicht alleine, Ben. Ich habe nur keine Beziehung.« Antworte ich platt und versuche, seinem Blick nicht auszuweichen.

Wie seine Lippen auf meinen gelandet sind, kann ich nicht sagen. Aber er sitzt plötzlich vor mir, seine Hände halten mein Gesicht und sein Mund wartet sanft und geduldig auf eine Antwort.

Ich keuche auf und greife mit meinen Fingern um seine Handgelenke, mein erster Impuls war es, sie wegzuziehen. Aus dieser Situation herauszukommen, aber im nächsten Moment antworten meine Lippen wie von selbst. Ich presse meinen Mund an seinen und gebe ihm still die Erlaubnis.

Seine Hände ziehen meinen Kopf näher an sich. Er öffnet seinen Mund und ein erleichtertes Knurren entfährt ihm, als er spürt, dass ich mich nicht wehre, als seine Zunge ihren Weg in meinen sucht. Wir küssen uns. Und vielleicht ist das noch zu freundlich ausgedrückt. Wir küssen uns wild und animalisch. Als gäbe es kein Morgen mehr.

Es ist ein Kuss zwischen zwei Verhungernden, als würden wir versuchen, verpasste Momente nachzuholen. Sein Mund saugt sanft, aber fordernd an meinen Lippen und mein Kopf verwandelt sich in einen einzigen Nebelschleier. Es ist eine Ewigkeit her, und dennoch fühlt er sich so vertraut an. Er atmet schwer, schmeckt nach Wein und Regen. Ich keuche zwischen den Küssen auf und ein Teil in mir wünscht sich so sehr, dass es nie endet. Ich will ihn fühlen. Schmecken.

Ich muss hier weg.

Ich stolpere rückwärts und stoße fast meinen Becher mit Wein um. Ben. Dieser Mistkerl!

Meine Hand greift an meine Kehle. Ich bekomme keine Luft mehr.

Atme, Vianne.

Mein Unterleib fühlt sich an wie Feuer.

Atme!

Tränen rinnen mir wie Sturzbäche über mein Gesicht und ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

»Keine... Keine Luft!« keuche ich noch. Ich sehe nur noch verschwommen.

Ben saß nur einen Moment verdattert vor mir. Er brauchte kurz, um zu realisieren und war sofort wieder an meiner Seite. Er greift meine Hand und schaut mich an.

Mit seiner tiefen, sonoren Stimme versucht er, mich zu beruhigen.

»Vianne, alles ist gut. Du hast gerade eine Panikattacke. Du bist in deiner Galerie. Du bist in Sicherheit. Wir atmen jetzt zusammen, okay?«

Und er beginnt langsam mit mir ein- und auszuatmen. Hält meine Hände sanft in seinen und wir atmen und schauen uns an und mein Blick wird wieder klar und ich sehe die Sorge in seinem Gesicht. Ben kniet vor mir und gibt mir das Gefühl von Sicherheit und ich komme langsam wieder in der Realität an.

»Was ist mit dir passiert, Vianne?« flüstert er, als er merkt, dass ich mich langsam beruhige und ich würde ihm gerne antworten.

In dieser Nacht, die es morgen vielleicht nicht gegeben haben wird.

Ich schüttle langsam den Kopf und stehe mit zittrigen Beinen auf. Ben folgt mir. Mit Abstand, aber so, dass er mich auffangen kann, sollte ich den Halt verlieren.

Ich laufe geradewegs zur Personaltoilette. Knie mich auf den Boden und kotze.

Ich kotze die Aufregung raus, dass Ben hier ist, ich kotze meine Angst vor Menschenmassen aus, ich kotze mein betrunkenes Liebesgeständnis von vor fünfzehn Jahren aus, ich kotze unsere Nacht auf dem Jahrgangstreffen vor zehn Jahren aus.

Ich kotze den Menschen aus mir heraus, der aus mir jemanden gemacht hat, dem Nähe in eine Panikattacke verfrachtet. Den Menschen, der mich fast aus dem Leben gerissen hat, in das ich mich seit acht Jahren nicht traue zurückzukehren.

Ben kniet hinter mir und streichelt mir die Haare aus dem Gesicht. Irgendwann spüre ich ein nasses Handtuch in meinem Nacken und als nur noch Spucke kommt, rolle ich mich wimmernd zusammen.

Er sitzt neben mir, seine Hand liegt auf meinem Rücken und sagt nichts.

IrgendwannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt