Kapitel 25

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"Mrs. Hanson, ich hoffe, Ihr Garten hat den Hurrikan unbeschadet überstanden?", lächle ich die alte Dame freundlich an, die sich ein paar Romane über Piraten und deren Liebesleben über das Wochenende ausgeliehen hat.
Mrs. Hanson lächelt milde, als sie die Bücher in einem Stapel auf meinen Tresen legt.
"Es hätte schlimmer sein können", murmelt sie und spielt mit ihrem Gebiss. "Die Kräuter und das Gewächshaus hat's umgehauen... Aber das bekommen wir wieder hin."
So ziehen sich die Gespräche schon den ganzen Vormittag. Ich bin froh, dass es allgemein wenig Schäden zu beklagen gibt, und mit einem Nicken verabschieden wir uns.

Da die Bibliothek heute eher leer ist, verschwinde ich in die Küche, um mir einen frischen Kaffee einzuschenken.

Ich glaube, Bens Geruch liegt noch immer in der Luft. Aber wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein.

Seufzend lasse ich mich auf den alten, knarrzigen Stuhl mit dem abgesessenen Polster fallen und genieße den ersten großen Schluck aus meiner Lieblingstasse, als mein Handy vibriert.
Ich habe es schon den ganzen Vormittag versucht zu ignorieren, egal wie oft ich den Drang hatte drauf zu gucken, ich wollte das Gefühl der Enttäuschung nicht, wenn er doch nicht schreibt.
Nun starre ich auf meine Handtasche, die am Haken hängt und aus der das verdächtige Surren kommt. Zwei Mal, drei Mal, vier Mal. Dann Stille. Das typische Vibrieren von eingehenden Nachrichten.

Ich wühle nach dem Telefon und entsperre es: 4 Neue Nachrichten – alle von Ben.

Ben (11:21)
Angekommen!
[Bild: Ben grinsend mit Daumen hoch]

Ben (11:22)
Wollte mich eher melden... war aber kaum möglich.
Werde von Adleraugen verfolgt. Eisiger Empfang. Flughafen. Vancouver. Jetzt am Set, gleich Meetings und Drehbesprechung 😩

Ben (11:22)
Hab meinen eigenen Trailer am Set. Total chillig! Roomtour später? 😏

Ben (11:23)
Hoffe, du startest gut in deine Woche.
Denk an dich, Füchschen 🦊

Mit einem Grinsen auf dem Gesicht lese ich Bens Nachrichten, und meine Sorgen sind wie weggepustet.

Vianne (11:25)
Wünsch dir einen stressfreien Tag und hoffe, der Kaffee am Set ist so gut wie hier.

[Bild: Vianne mit Kaffeetasse und einem breiten Lächeln]

Ben (11:25)
Mach mich nicht schwach...🥲

Vianne (11:25)
Muss ich Mitleid haben?

Ben (11:26)
Mit mir? Immer.
Ohne deinen Kaffee werde ich sterben.

Vianne (11:26)
Armer, armer Ben.

Die Nachricht ist gelesen, aber unbeantwortet. Ich nehme an, sein Tag beginnt.

Gerade als ich aufstehen will, schiebt sich der alte Carl mit einer Kiste Bücher in die Küche und schnaubt erschöpft. Ich springe auf und helfe ihm, die Kiste auf die Ablage zu heben. Nach dem Wochenende stehen einige Keller unter Wasser, und viele Haushalte haben alten Buchbestand gelagert, den sie vergessen haben oder schon längst entsorgen wollten. Einige Menschen erinnern sich an Carls kleine Bibliothek und rufen ihn nun zu sich, um zu gucken, ob die einen oder anderen Bücher einen Platz in unseren Regalen finden können.
So fährt er seit heute Morgen mit seinem Pick-up durch die Stadt und sammelt ein, was ihm geboten wird. Vieles ist leider kaum etwas wert und entspricht nicht dem Anspruch unserer Bibliothek, aber die einen oder anderen Schätze sind wie immer dabei. Wenn Carl unterwegs ist, sortiere ich schon einmal nach Nutzspuren, Thema und Seltenheit.

"Es gab noch zwei Anrufe aus Williamsburg und Astoria, aber die wollen ihre Kisten vorbeibringen. Ich habe dir die Nummern aufgeschrieben", teile ich ihm mit, während ich an meinem Kaffee nippe. Carl brummt sein Ja in den Bart und gießt sich ebenfalls einen Kaffee ein.
"Danke." Er mustert mich."Du siehst entspannter aus als heute Morgen", stellt er fest und trinkt noch einen Schluck, während sein typischer 'Was hat sich geändert?'-Blick über mich fährt und an meinem Hals hängen bleibt. "Ist das ein Knutschfleck!?", nuschelt er belustigt und nickt in meine Richtung. Ich fasse mir erschrocken an meinen Hals, schüttle irritiert den Kopf und verneine seine Entdeckung. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Ben mir einen Knutschfleck verpasst haben könnte. Wir sind erwachsen. Machen so etwas nicht nur Teenager?

"Vielleicht eine allergische Reaktion. Habe gestern neue Farbe ausprobiert...", vermute ich und husche Richtung Badezimmer. Im Spiegel stelle ich fest, dass an meinem Hals tatsächlich eine leichte rote Stelle zu sehen ist, die verdächtig nach einem Knutschfleck aussieht. Ich verdrehe genervt meine Augen. Ben!

Ich mache ein Foto von der Stelle an meinem Hals und schicke es an Ben.

Vianne (11:46)
Bist du nicht ein wenig zu alt dafür?

Ich stecke mein Handy seufzend in meine Tasche und sehe Carls Blick, der mir kein Wort geglaubt hat, aber keinen weiteren Kommentar abgibt. "Hilfst du mir, die letzten zwei Kisten zu holen?"

Und so vergeht der Tag mit wenigen Besuchern, sodass Carl und ich die Bücher alle auf dem Boden ausbreiten, uns Zimtschnecken liefern lassen und bis spät in den Abend die Schätze sortieren, bestimmen und schauen, ob wir sie in unseren Bestand aufnehmen können. Es sind sogar eine Menge neuer Werke und eine kleine Kiste unangetasteter aktueller Kinderbücher dabei – auch wenn ich dankbar für solche Gaben bin, frage ich mich manchmal, welche Schicksale sich dahinter verstecken. Welche Familie gibt ungelesene Kinderbücher ab?

Carl mustert mich, während ich die Bücher einschlage und in unser System einlese.

"Als ich meine Inga damals zum ersten Mal ausgeführt habe, habe ich ihr auch mein Zeichen aufgesetzt", schmunzelt Carl wie aus dem Nichts. "Aber ich war anständig und wollte nicht, dass Inga Ärger bekommt. Also habe ich sie an ihrem Handgelenk markiert, dort wo ihre Uhr saß. So musste sie an mich denken, wenn sie auf die Uhr geschaut hat." Ich liebe es, wenn Carl von seiner Zeit mit Inga spricht – seine Augen glänzen im Licht und er hat ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. Dennoch ist es mir just in diesem Moment sehr unangenehm. Schließlich weiß ich ja, wieso er es anspricht, und werde rot. Meine Hand wandert automatisch zu meinem Hals.

"Vivi, Kleines. Du musst nichts sagen. Ich bin froh, wenn du jemanden gefunden hast. Du bist viel zu lange allein gewesen", sagt er, und mit dem dumpfen Zuschlagen eines Buches beendet er das Thema für sich.
Als wir fertig sind, verstauen wir die Bücher in die thematisch passenden Regale und machen Feierabend.

Bevor ich mich auf mein Fahrrad schwinge schaue ich noch einmal auf mein Handy und ein Lächeln huscht auf meine Lippen als ich sehe, dass er mir geschrieben hat.

Ben (19:57)
Schade...Man sieht ihn ja kaum 🥺
Wollte nicht, dass du mich vergisst.

Nicht mal auf dem Weg nach Hause bekomme ich das Grinsen aus meinem Gesicht – selbst die Schmetterlinge in meinem Bauch feiern unaufhörlich eine kleine Party.

***

» Zur Info: der Zeitunterschied zwischen New York und Vancouver beträgt 3 Stunden

» Nehmt euch Zimtschnecken ehe das Drama los geht. Ich bin nicht glücklich mit diesem Kapitel, irgendwie holpert es. Aber noch mal überarbeiten schaff ich nicht. Mäh.

♥️

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