Kapitel 04

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GEGENWART | New York


Der Regen hat sein Jacket schon längst durchnässt. Er telefoniert aufgeregt. Legt auf. Telefoniert wieder. Tippt wild auf seinem Display rum.

Diesen Rücken würde ich immer wieder erkennen und als mir klar wird, wer dort – nur wenige Meter – vor mir steht, würde ich mich am liebsten sofort übergeben. Mein Magen dreht sich auf Links und ich versuche innerlich Fassung zu bewahren.

Wie groß sind die Chancen, dass sich zwei Menschen an einem Tag wie diesem in New York über den Weg laufen, wenn einer von ihnen eigentlich auf der anderen Seite des Kontinents lebt?

Ich atme. Ich atme fast zu viel – also versuche ich die Luft anzuhalten. Ich könnte weitergehen. Kann ihn ignorieren, er würde nie erfahren, dass wir uns über den Weg gelaufen sind. Dass ich nur wenige Meter hinter ihm stehe, barfuß und vom Regen durchnässt.

»Ben?«

Toll. Mein Körper führt ein Eigenleben.

Ich sage seinen Namen gerade mal so laut, dass niemand es gehört haben kann, so wie ihn sonst niemand erkannt hat, auch wenn er kein unbekanntes Gesicht ist. Sie sind alle damit beschäftigt ein Taxi zu ergattern oder andere Möglichkeiten zu organisieren um nach Hause zu kommen.
Es ist laut, die Menschen brüllen sich und die Taxifahrer an. Der Wind hat angezogen und der Regen prasselt unaufhaltsam auf die Menschen, die Straße, die Autodächer.

Aber er dreht sich um und mein Herz setzt aus.

Ben Baker. Inzwischen kenne nicht nur ich ihn, sondern sämtliche Cover diverser Modemagazine. Calvin Klein. GQ. Wie sie nicht alle heißen.

Er sucht in den Gesichtern um sich herum, woher sein Name kam, und bleibt an meinem Gesicht haften – inständig hoffe ich, dass er mich nicht erkennt. Aber er erkennt mich. Trotz zugezogener Kapuze im Gesicht. Trotz der viel Zeit, die ins Land gezogen ist.

»Vianne!« antwortet er und auf seinem Gesicht breitet sich sein verbotenes Lächeln aus, das ich innerlich kaum erwidern kann, aber auch hier hört mein Körper nicht auf mich.

Mit großen Schritten läuft er auf mich zu und schließt mich in seine Arme. Als wären wir alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben. Als würde er sich freuen, mich zu sehen. Ich erwidere die Umarmung halbherzig. Und bereue es sofort. Seine Wärme findet ihren Weg durch meinen Regenmantel, sein ganz eigener Duft umhüllt mich und schlägt mir noch einmal mit aller Kraft in die Magengrube. Was fand ich daran nochmal so schlimm, mit der U-Bahn zu fahren?

Ich weiß nicht, wie lange er mich so gehalten hat, aber als er mich loslässt, ist der Platz fast leer und vom letzten Taxi sind nur noch die Rücklichter zu sehen.

»Fuck!« murmelt er und zieht sein Handy wieder aus der Tasche. »Nein, Steve! Ich muss heute noch zurück. Kannst du mir einen Fahrer organisieren? Wie kein Flug, kein Fahrer? Steve! Das geht nicht, ich muss morgen auf der Gala in L.A. sein... Ja, scheiße. Kümmer dich!« Ben schaut bitterböse auf sein Display und lässt es wieder in seiner Tasche verschwinden.

Wie angewurzelt stehe ich vor ihm. Inzwischen regnet es dicke Bindfäden, der Wind zerrt an Bäumen, Sträuchern und nicht gesicherten Schildern. Das Wasser an meinen Füßen geht mir fast bis zum Knöchel und irgendwo in der Ferne tanzen helle Blitze bedrohlich über den Horizont.

»Wow! Vianne! Wie lange ist das denn her? Wie geht's dir? Was machst du hier?« Ben strahlt förmlich und überflutet mich mit seiner samtigen, dunklen Stimme mit Fragen. Nicht, dass es mal einen Moment gab, in dem er nicht gestrahlt hat – und seit ein paar Jahren auch auf diversen Werbekampagnen – aber in diesem Moment wirkt es eher wie Hohn auf mich.

»Zehn Jahre«, antworte ich knapp. Wenn ich so zurückdenke, dann fast auf den Tag genau. Neben mir flackert die Außenbeleuchtung des Hotels und Ben steht vor mir im Regen, als mache ihm nichts davon etwas aus. Weder das nahende Unwetter, noch dass er inzwischen komplett durchnässt sein muss.

»Ich lebe hier, Ben«, füge ich noch an und versuche, meinen Blick von seinem zu lösen. Was gar nicht so einfach ist, da er nicht aufhören kann, so verdammt breit zu grinsen. Über sein Gesicht rinnen dicke Regentropfen und seine kastanienbraunen Locken beugen sich dem Himmel.

»Was für ein verdammtes Glück! Endlich ein Gesicht, vor dem ich nicht fliehen will.«

Ich aber...

Ben nimmt mich noch einmal fest in seinen Arm und sieht ehrlich erfreut aus – dieses kleine verräterische Herz in meiner Brust tut es ihm gleich. Und jeder Schlag treibt den Groll aus meiner Brust.

Über uns kracht ein Donner. Die Straßen sind inzwischen, bis auf gelegentlich vorbeirauschende Rettungswagen, wie leergefegt. Das schaffe ich nie mehr nach Hause.

Ben zieht den Kopf ein, als ein Blitz über unsere Köpfe hinwegzieht.

»Weißt du, wie ich jetzt noch zum Flughafen komme?« fragt er etwas gehetzt.

»Gar nicht, Ben. Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber: Ophelia bahnt ihren Weg. Es fährt nichts mehr, es fliegt nichts mehr.« Ich schnaube etwas frustriert. »Und wegen dir ist gerade meine letzte Chance, nach Hause zu kommen, vor meiner Nase weggefahren.«

»Wegen mir? Ich hätte das letzte Taxi zum Flughafen nehmen können, das ich wegen dir verpasst habe!« Ben verschränkt seine Arme vor der Brust und schaut mich herausfordernd an.

»Den Flug hättest du trotzdem nicht bekommen!« knirsche ich ihn an und fange dann schallend an zu lachen. Ben prustet los und so stehen wir beide also nach zehn Jahren Funkstille in einem nahenden Sturm mitten im Regen auf den Straßen von New York und lachen.


***

» Was für ein wiedersehen oder?

» Mögt ihr eigentlich eher so regelmäßige Erscheinungstermine oder lieber hoch mit allem was fertig ist? Ich versuche noch ein bisschen herauszufinden wie das hier bei Wattpad so läuft :D

IrgendwannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt