Kapitel 01

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GEGENWART  | New York

Das Wetter dieses Jahr ist unberechenbar, so auch die Kundschaft in der kleinen Bibliothek, in der ich seit fast acht Jahren arbeite. Für dieses Wochenende ist schon seit Tagen eine heftige Unwetterwarnung ausgerufen worden - Hurrikan Ophelia tobt über die Ost-Küste.
Die Flughäfen und der Bahnverkehr wurden gestoppt, und die Menschen strömen hier herein, um sich neben den aktuellen Streamingdiensten auch anderweitig berieseln zu lassen, während sie ihre Zeit im Hochsommer zu Hause fristen müssen.

Nachdem Bücher in den letzten Jahren eher das weniger genutzte Medium zum Zeitvertreib waren, war ich heute mehr als überfordert, die Menge an Kundschaft zu bedienen.
Wie kleine Geister irren sie durch die Gänge der Regale und suchen sich ihre Unterhaltungslektüren. Irgendwann erkennt man den Geschmack der Menschen schon beim Betreten der Bibliothek, und ohne viele Worte kann ich in die entsprechenden Gänge zeigen.
Also scanne ich im Akkord die gewünschten Leihgaben in das System, lächle freundlich und wünsche viel Spaß beim Lesen.

»Vianne, wir müssen die Leute hier jetzt rausbekommen.« brummt es plötzlich bärenhaft hinter mir. Carl gehört die Bibliothek schon eine halbe Ewigkeit. Er ist einer von dieser Sorte Mensch, die man sieht und sofort ins Herz schließt. Ich finde, dass er immer schon ein wenig Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann hat, aber er hält sich ein bisschen für einen gealterten Hugh Jackman.
Ich schaue ihn fragend an, aus meinem Trott gerissen zu werden, war nie der Garant dafür, dass ich zugehört habe.

»Der Hurrikan rückt näher, und wir wollen auch noch nach Hause kommen. Also los, wir schließen jetzt.«
Mit einer fließenden Bewegung schaltet er das grüne Licht des Schalters auf rot. Ein Raunen geht durch die übrigen Besucher, und Enttäuschung macht sich breit.

Carl klatscht in seine Hände: »Ihr Lieben! Ich weiß, noch nicht alle sind fündig geworden. Dennoch liegt uns eure sichere Heimfahrt am Herzen. Ich bitte euch, jetzt also die Bibliothek zu verlassen und euch auf direktem Weg nach Hause zu begeben, damit wir uns nächste Woche gesund und munter wiedersehen!«

Ich helfe einer älteren Dame, ihre Auswahl an Büchern zurück in die Regale zu stellen, schustere ihr aber heimlich zwinkernd noch das letzte Buch von Dan Brown zu, damit sollte sie dieses Wochenende alle Bücher von ihm gelesen haben.

»Ich freu mich, wenn Sie es mir nächste Woche wiederbringen. Und ein schönes Wochenende haben.«
Sie drückt dankbar meinen Arm: »Sie sind immer so freundlich, Vianne.« spannt ihren Regenschirm auf und läuft Richtung Metro.

IrgendwannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt