1 Prolog

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Der Mantel war so gross, dass er ihre Gestalt bis zu den Knien verhüllte.
Mit geweiteten Augen sah sie sich um, die kleinen Hände tief in den Taschen vergraben.
"Komm rein", forderte Miss Sally das Mädchen auf und lächelte ihr freundlich zu.
Nach kurzem Zögern folgte das Kind ihrer dürren Gestalt in das Zimmer hinein.

Ein Bett nahm den grössten Teil des Raumes ein, die geblümte Decke war ordentlich zurückgeschlagen worden.
Neben dem Schrank aus Holz thronte ein antiker Schreibtisch, gleich unter dem Fenster.
"So kannst du beim Lernen über die Stadt sehen", sagte Miss Sally, die den Blick des Mädchens bemerkt hatte.

Das arme Ding, verfroren und hungrig hatte der Kutscher sie abgeliefert.
Seit sie eingetroffen war, hatte sie noch kein Wort gesagt.
Miss Sally runzelte besorgt die Stirn. Verloren sah sie aus, in dem viel zu grossen Mantel und der blassen Haut, die um die Nase herum mit Sommersprossen bedeckt war.

"Nebenan wohnt ein Mädchen, das gleich alt ist wie du", fuhr die Nonne mit sanfter Stimme fort. "Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen."
Das Mädchen hob den Kopf und sah die Frau unverwandt an. Rote Haare umrahmten das blasse Gesicht und hatten sich im pelzigen Kragen des Mantels verfangen.

"In einer Stunde gibt es Abendbrot." Miss Sally deutete auf die Uhr an der Wand, deren Zeiger langsam tickten. "Wenn du etwas brauchst, darfst du mich rufen, ja?"
Sie erwartete schon gar keine Antwort mehr. Sie spürte den Blick des Mädchens auf ihrer Gestalt, als sie über die Schwelle trat.

"Bis nachher, Marian." Einen kurzen Augenblick hielt Miss Sally inne, doch das Mädchen drehte ihr langsam den Rücken zu und trat ans Fenster.
Marian musterte die Eiskristalle an der Glasscheibe und starrte mit grossen Augen hinaus auf Londons Dächer.
Ihre winzigen Hände klammerten sich mit festem Griff um ein Stück Holz, das verdächtig nach einer Steinschleuder aussah.

Die Kinder vom Land, dachte Miss Sally und schüttelte leicht den Kopf.
So leid es ihr tat, sie würde dem Mädchen die Steinschleuder wegnehmen müssen.
Aber nicht heute.
Ein stiller Seufzer hob ihren Brustkorb.
Mit einem letzten Blick auf die kleine Gestalt schloss die Nonne die Tür.

Marian und ein Dieb namens RobinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt