Kapitel 8

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Über den Lärm der Kinder um mich herum, erhob sich eine laute Stimme. "Platz da. He, pass doch auf. Beweg dich mal, Kleiner. Lasst mich durch! Ich bin ein Wächter, okay?" Ein Junge drängelte sich durch die Masse an Körperteilen. Ich konnte nur sein Gesicht erkennen, weil sich vor seinen Körper immer wieder Kinder schoben, die er daraufhin wütend zur Seite schubste. Viele wichen respektvoll vor ihm zurück und tuschelten über ihn, wenn er an ihnen vorbeikam. Nevio machte ein unglückliches Gesicht, als er den Jungen sah. "Was ist los?" fragte ich ihn. "Was ist ein Wächter?" Er runzelte nur die Stirn und sah dem Jungen entgegen, der nun näher kam und vor uns stehenblieb. "Hey Neo, wie geht's?" fragte er und streckte Nevio die Hand entgegen. Sie war schwarz. Genau wie seine restliche Haut. Er hatte breite Schultern, blitzende Augen und einen spöttisch lächelnden Mund. Seine schwarzen Locken waren kurz und sahen so süß aus, dass ich fast meine Hand ausgestreckt und sie berührt hätte. Aber ich zwang mich, es sein zu lassen. Der Junge trug ein dunkelrotes T-Shirt mit dem Aufdruck zweier gekreuzter Schwerter, eine schwarze Hose die an den Beinen hochgekrempelt war und wie alle anderen auch rote Sneekers. Um seine Stirn hatte er sich ein schwarzes Stirnband gebunden und an seinem Arm baumelten unzählige Bänder mit aufgefädelten Muscheln, Perlen, Anhängern und, was mir einen Schauer über den Rücken jagte, kleinen Knochen. Er hatte einen sehr muskulösen Körperbau, soweit ich das erkennen konnte. Nevio ergriff zögernd seine Hand und es sah aus, als wenn sie versuchten sich gegenseitig die Hände zu zerquetschen. "Was machst du hier, Cassian?" fragte er und ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen vibrierte. Ich sah erschrocken zu Nevio hinüber. Was passierte hier? Die Jungen ließen ihre Hände los und funkelten sich an. "Ich habe eine Nachricht an Jaron." antwortete Cassian, lächelte spöttisch und fügte hinzu:" Die dich nichts angeht, Kleiner." Ich konnte förmlich spüren, wie die Kinder um uns herum die Luft anhielten. Die Geräusche verebbten und alle sahen gespannt die beiden Jungen an. "Und wenn doch?" fragte Nevio herausfordernd. "Weiß Lia davon?" Ich sah ihn fragend an. Lia? Aber er beachtete mich gar nicht. Cassian zischte wütend. Seine schwarzen Augen nahmen einen schrecklichen Rotton an und als er den Mund öffnete um zu antworten, entblößte er zwei Reihen rasiermesserscharfer gelber Zähne. "Sprich mir gegenüber nicht von Lia. Du bist es nicht wert, ihren Namen in deinen dreckigen Mund zu nehmen." Seine gespaltene Zunge benetzte beim Reden seine weißen Lippen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um einen ängstlichen Laut zurückzuhalten. Die anderen Kinder sahen das Ungetüm bewundernd an. Keiner von ihnen schien erschrocken oder überrascht zu sein. Ich sah in keinem Gesicht auch nur den Hauch von Angst. Wo war ich hier bloß gelandet?! Auch Nevio schien Cassians neues Aussehen nicht zu beeindrucken. "Willst du kämpfen? Na komm schon! Wir beide, wie in alten Zeiten. Aber diesmal werde ich dich nicht verschonen. Diesmal wird dich keiner beschützen, Cassian. Und dann wird Lia endlich einsehen, was für ein Schwächling du bist." neckte er. Ich bewunderte Nevio für seinen Mut, aber er schien Selbstmord begehen zu wollen, wenn er sich mit dem Monster von Cassian anlegen wollte. Cassian spuckte auf den Boden, aber ich sah ihm an, dass Nevios Worte seine Wirkung erzielt hatten. "Du hast ein ganz schön vorlautes Maul. Das sollte ich dir mal austreiben." zischte er mit seiner gespaltenen Zunge. Nevio lachte nur und sagte:" Dann komm doch!" Das ließ sich Cassian nicht zweimal sagen. Seine Finger verwandelten sich in Krallen und schossen auf Nevios Brust zu. Doch dieser reagierte ebenso schnell. Er schloss die Augen, was ich sehr waghalsig fand, und breitete seine Handflächen aus, sodass sie sich ungefähr einen Meter über dem Boden befanden. Die Kinder um uns herum, wichen zurück, aber meine Beine schienen aus Zement zu bestehen. Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren, bis mich eine starke Hand am Kragen packte und nach hinten zog. "Hast du Todeswunsch oder warum bleibst du stehen?" zischte mir eine Jungenstimme ins Ohr. Ich drehte mich nicht um, um zu sehen mit wem ich es zutun hatte, denn ich betrachtete noch immer die Jungen. Aus dem Boden neben Nevios Füßen schossen grüne Ranken, die sich um Cassians Krallen wanden und ihn zurückhielten. Cassian fauchte wütend:" Was du kannst, kann ich schon lange, Kanalratte." Er rammte seine Zähne in die Ranken und sie zerfielen zu einem Haufen Unkraut. Seine Augen wurden dunkelgrün, seine Krallen zu dünnen Ästen und seine Haut runzlig und eingekerbt, wie bei einem Baumstamm. Statt seinen Haaren trug er grüne Sträucher mit Blättern auf dem Kopf. Er hatte sich in einen menschlichen Strauch verwandelt. Das hätte witzig sein können, wenn er nicht so schrecklich gelacht hätte. Es klang alt und hohl und gar nicht mehr nach dem Jungen, den ich vorhin noch vor mir gehabt hatte. Cassian streckte seine Astarme aus und ließ grüne Funken aus den Enden stieben. "Das darfst du nicht!" rief Nevio. Er wirkte sichtlich nervös. "Und warum nicht?" lachte Cassian. Er wusste, dass er so gut wie gewonnen hatte. "Das ist nicht dein Element! Du darfst nicht...die Vorschriften..." Nevio verstummte, als Cassian seinen Arm ausstreckte und grüne Funken daraus aufstoben. Sie zischten auf Nevio zu. Der Braunhaarige hob seine Hände und machte eine seltsame Bewegung damit, eine Mischung aus einer Drehung und einem Faustschlag, bis er Cassian seine Finger entgegenstreckte. Die beiden Kuppen seiner Daumen berührten sich und seine Zeigefinger bildeten ein Kreuz. Aus seinen Fingerspitzen schossen grün-leuchtende Fäden die sich um Nevios Körper schlossen. Sie verankerten sich miteinander, verknoteten sich und schienen ineinander überzugehen. Sie wurden zu einem großen leuchtenden Schild, der Nevio umgab. Die Kinder neben mir holten tief Luft und redeten wild durcheinander. "Das hält er nicht aus." "Jemand muss dazwischengehen." "Es eskaliert. Jemand soll Jaron. holen!" "Nevio schafft das nicht." "Was macht er da? Das übersteigt seine Grenzen." Mich überlief ein Schauer, als ich Nevio betrachtete. Seine Augen blitzten konzentriert, sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Dann trafen Cassians Funken auf Nevios Schild und die Welt explodierte in einem grünen Licht. Ich wurde gegen die schreienden Jugendlichen hinter mir geschleudert und landete auf hartem Boden. Mein Blick war für kurze Zeit verschwommen, als ich mich aufrappelte und das Chaos betrachtete das sich mir bot. Es hatte alle Kinder und Jugendlichen, die weiter vorne gestanden hatten, von den Füßen gerissen. Der Geruch von verbrannter Kleidung und versenkten Haaren erfüllte die Luft. Nevio und Cassian lagen bewegungslos auf dem harten Stein des Ganges und hatten Schrammen und Kratzer im Gesicht und an den Armen. Nevios Bein zeigte eine blutende Wunde. Cassian hatte wieder seine normale Gestalt angenommen. Der Boden um sie herum qualmte. Ich stürzte auf die bewusstlosen Jungen zu und ließ mich neben Nevio auf die Knie fallen. "Holt einen Arzt!" rief ich und schüttelte Nevios Schulter. Sein T-Shirt wies an manchen Stellen verbrannte Löcher auf und auch Cassians Kleidung schien unter der Explosion gelitten zu haben. Ein Mädchen kniete neben mir nieder und betrachtete Nevios Gesicht eingehend. "Es geht ihm gut. Keine Sorge, er hat schon schlimmeres erlebt." sagte sie. Sie hatte hüftlange blonde Haare und Lachfältchen um die blauen Augen, die verheißen ließen, dass sie gerne und viel lachte. Doch momentan war ihr Lächeln einem besorgten Blick gewichen. Das Mädchen biss sich nervös auf die Unterlippe. Doch auch so war sie wunderschön. Sie war dass schönste Mädchen das ich je gesehen hatte. Um Vereher musste sie sich wahrscheinlich nicht die geringste Sorge machen. Plötzlich ließ ein wütender Ausruf uns beide und die Jugendlichen um uns herum zusammenfahren. "Was geht hier vor sich?!" Ich erkannte die Stimme fast sofort. Es war der Mann der mich aus dem Heim geholt hatte. Mir fiel auf, dass ich seinen Namen gar nicht wusste. Ich würde ihn später danach fragen, entschied ich. Die Jugendlichen zogen die Köpfe ein und wichen respektvoll zurück. Der Mann kam überraschend schnell näher und blieb dann neben mir stehen. "Sag schon, was ist hier passiert?" fragte er und seine Stimme wurde ein klein wenig weicher. Ich öffnete den Mund und wollte ihn erklären, wie Cassian und Nevio aneinandergeraten waren, als ich erkannte, dass sein Blick nicht auf mir ruhte. Er war wartend auf das Gesicht des Mädchens neben mir gerichtet. Ich drehte mich verdutzt zu ihr um. Sie lächelte und antwortete höflich:" Guten Morgen, Jaron. Soweit ich es mitbekommen habe, gab es eine kleine Auseinandersetzung zwischen Cassian und Nevio, die eskalierte. Sie haben beide keine großen Wunden davongetragen, sind aber für ein paar Stunden nicht ansprechbar. Ich empfehle, dass Sie ihnen ein bisschen Schlaf gönnen, bevor Sie mit ihnen darüber reden." Der Mann, der anscheinend Jaron hieß, nickte, betrachtete die beiden Jungen abschätzen, als würde er bereits darüber nachdenken, was mit ihnen passieren würde und drehte sich dann zu den stummen Jugendlichen um. "Was steht ihr hier noch herum? Es ist Essenszeit, habt ihr das vergessen? Na los." Sofort kam Bewegung in die Kinder und sie stürzten auf die Tür des duftenden Raumes zu. Ein kräftiger Junge öffnete sie und die Masse an Leibern verschwand dahinter. Der Gang war nun leer, bis auf Cassian, Nevio, das Mädchen, Jaron und mich. Jaron hatte sich über Nevio gebeugt und ihm die Hand auf die Stirn gelegt. "Bring sie in das Lichterzimmer und wenn sie wieder bei Bewusstsein sind, gib mir augenblicklich Bescheid, verstanden?" fragte er das Mädchen, als würde ich gar nicht existieren. Sie lächelte und erwiderte:" Jawohl, Jaron." Der Mann nickte dankend, erhob sich und ging in einen weiteren Gang, der links von der Tür weiterführte. Das Mädchen begutachte wieder die beiden Jungen. Ich stand auf und lief Jaron nach. Er schien meine Schritte nicht zu hören, deshalb rief ich:" Jaron, warte." Er beachtete mich nicht und beschleunigte seinen Gang etwas. Verwirrt lief ich langsamer. Warum ignorierte er mich, wenn er mich doch gestern erst aus dem Heim geholt hatte? Ich hatte Fragen an ihn. Viele Fragen, die meinen Kopf fast bersten ließen. Es waren Fragen an diesen Ort, an die Jugendlichen und Kinder hier, an die seltsamen Begriffe die ich hier gehört hatte: Lichtbringer, Wächter, Schattenjäger. Was hatte es damit auf sich? "Jaron, bitte bleib stehen. Ich habe Fragen." rief ich, in einem erneuten Versuch seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch wieder machte er keine Reaktion, die darauf schließen ließ, dass er mich gehört hatte. Er öffnete eine der Türen an den Wänden des Ganges und verschwand dahinter. Ich blieb verwirrt stehen und dachte über Jarons Verhalten nach. Warum war er gestern so unglaublich nett zu mir gewesen und einen Tag später war ich nichts als Luft für ihn? Ich versuchte meine Wut auf ihn zu überspielen, zuckte mit den Schultern und ging zurück zu der Tür, aus der die köstlichen Gerüchte und die Stimmen der hungrigen Kinder drangen.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt