Kapitel 16

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Als ich aufwachte, war es dunkel. Es gab keine Fenster und keine Uhr, weshalb ich die Uhrzeit nicht einschätzen konnte. Ich versuchte wieder einzuschlafen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich war hellwach. Dann hörte ich leises Geschäpper hinter mir, als versuchte jemand so leise wie möglich, das Geschirr zu sortieren. Und wirklich. Als ich mich umdrehte, stand dort Ryan mit dem Rücken zu mir am Herd und stapelte Teller aufeinander. Einen Moment sah ich nur dabei zu, dann setzte ich mich auf und flüsterte: "Du bist anscheinend Frühaufsteher." Ich hatte erwartet, dass der Junge beim plötzlichen Klang meiner Stimme zusammenzuckte, doch er drehte sich nur um und lächelte mich an. "Du anscheinend auch." sagte er. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. "Nein, eigentlich nicht. Was machst du da?" fragte ich, stand auf und trat neben ihn. Er sah auf das Geschirr vor sich. "Ach, nichts. Bisschen aufräumen. Frühstück machen." "Wie spät ist es?" fragte ich. Er sah auf seine Armbanduhr und antwortete: "Kurz nach sechs Uhr." Ich nickte und fragte ihn, wo es Besteck und Obst gab. Er reichte mir beides und ich setzte mich an seinen Schreibtisch und begann das Obst in kleine Stücke zu schneiden. Ryan räumte währenddessen das saubere Geschirr in den Schrank, setzte sich dann neben mich, nahm sich einen Apfel und ein Messer und begann die Frucht zu zerteilen. Schweigend arbeiteten wir, zerschnitten Obst und warfen die Stücke in eine Schale. Es vergingen knapp zehn Minuten, was ich daran merkte, dass Ryan's Uhr im Fünf-Minuten-Takt piepte. Irgendwann wurde es ihm wohl zu langweilig, denn er fragte: "Also ... wie steht's mit der Schule und dir?" Fragend sah ich ihn an. Er lächelte. "Lieblingsfächer, hast du gute Noten?" Ich warf eine Birne in die Schüssel. "Ich mag Sprachen. Englisch und Deutsch. Mit Zahlen und dem Rest hab ich's nicht so. Notentechnisch lief's auch mal besser. Wie sieht's bei dir aus?" Ich betrachtete seine Augen und erst jetzt viel mir auf, dass sie unnormal hellblau waren. Sie passten perfekt zu seinen dunkelblauen Haaren. "Ich bin nie in eine Schule gegangen." Ich schreckte aus meinen Gedanken. "Du bist was?" hakte ich verwirrt nach, weil ich glaubte, mich verhört zu haben. "Ich bin nie in eine Schule gegangen." wiederholte Ryan. "Aber du musst doch lesen und schreiben können, oder?" Ich konnte nicht glauben, dass Ryan - der Junge, der uns eigens hergefahren hatte - nie in einem stickigen Klassenzimmer gesessen und versucht hatte, den Lehrern zuzuhören. Ryan sah auf seine Uhr und wischte das Messer an seinem Ärmel trocken. "Ja, ich kann lesen und schreiben und rechnen und den ganzen Kram. Ich hab mir so ziemlich alles selbst beigebracht. War nicht leicht, aber ich hab's geschafft." Ich fragte: "Haben dir deine Eltern nichts beigebracht?" Ryan's Lächeln verflog und ich merkte sofort, dass ich ein falsches Thema angesprochen hatte. "Ich kenne meine Eltern kaum. Mein Vater hat viel zutun und ist selten da." Er machte eine Pause. "Meine Mutter starb als ich drei war. Es war ein Unfall." Ich schluckte und sah auf die Tischplatte. "Tut mir leid." murmelte ich. Ryan nickte, erwiderte aber nichts. Nach kurzem Schweigen fragte er: "Dein Element ist Wasser, oder?" Ich bejahte. "Wie hast du's raus gefunden?" Ich sah ihn an. "Was raus gefunden?" "Dass du anders bist. Dass du Fähigkeiten hast. Wie alt warst du?" Ich seufzte. Kein gutes Thema. "Ich war fünf. Es war im Sommer. Wir sind baden gegangen in dem kleinen Teich auf den Hof von meinem Heim. Es war eigentlich alles gut. Ich saß am Ufer, hab die Füße ins Wasser gehalten und den anderen zugeschaut. Aber dann hat mich jemand von hinten geschubst und ich bin ins Wasser gefallen. Ich war sauer, weil ich mich schon umgezogen hatte und meine Klamotten triefend nass waren. Alle haben gelacht und da bin ich ausgeflippt. Ich hab mich wie wild im Kreis gedreht, um zu sehen, wer mich geschubst hat und das Wasser schien mir zu folgen. Es hat sich mit mir gedreht, immer und immer schneller, bis es zu einem Strudel wurde. Die anderen haben schreiend versucht, ans Ufer zu fliehen. Die meisten haben es geschafft. Ein kleiner Junge aber, Lukas hieß er, war zu langsam. Bevor ich reagieren konnte, wurde er mitgerissen und auf den Grund des Teichs gedrückt. Er hat gezappelt und unter Wasser geschrien und es kamen Blasen aus seinem Mund und seine Augen haben sich gedreht und ich konnte nicht reagieren, sondern hab nur dagestanden und ihn angestarrt und plötzlich ... hat er sich nicht mehr bewegt." Ich machte eine kurze Pause. "Die Betreuerin hat geschrien und dann bin ich getaucht und hab ihn geholt. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Meine Haare waren immer braun gewesen. Von Geburt an. Aber plötzlich, in dem Moment als ich das erste Mal meine Kräfte benutzt hatte, veränderten sie ihre Farbe. Sie wurden lila. Einfach so. Ich hab vergeblich versucht, es rauszuwaschen, es zu färben, aber nach ein paar Stunden hatten sie wieder genau dieselbe Farbe. Es war irgendwie gruselig. Naja, Lukas ging es gut, nach drei Tagen war er wieder zurück. Aber von da an waren alle anders zu mir. Es hieß immer: "Da ist Thalia, die Wassermörderin mit den lila Haaren.", dabei hab ich nie jemanden getötet. "Nehmt euch in Acht vor dem Monster.", "Sie ist kein Mensch. Sie ist ein Ungeheuer." Nie wurde gesagt: "Sie hat Lukas wieder hoch geholt. Dank ihr lebt er noch.". Nein, ich hatte ihn nur fast getötet. Es war schrecklich, Ryan, schrecklich. Ich wollte abhauen, doch ich wusste nicht, wohin." Ryan nickte. Er war ein guter Zuhörer. Ich schluckte kurz, als würde die Erinnerung dadurch verblassen. "Was ist mit dir?" erkundigte ich mich bei ihm. Er sah in die Schüssel mit dem nun fertigen Obstsalat, stand dann auf und während er Teller aus dem Regal nahm, erklärte er: "Mein Element ist Eis. Ich hab's im Sommer herausgefunden, war damals sechs. Ich saß hinten in einem Auto und hab gewartet. Es war extrem heiß. Fenster gab es nur vorne und da kam ich nicht an. Die Tür war verschlossen. Ich hab Panik geschoben, mir das T-Shirt ausgezogen und nach Trinken gesucht - es gab nichts. Ich war völlig außer mir, hab auf die Autowände eingeschlagen und geschrien, ich bräuchte Hilfe. Und die kam. Eis hat die Fenster und Wände überzogen, bis es irgendwann so kalt war, dass die Scheibe zerbrochen ist. Es war so wunderbar kalt. Und dann bin ich ohnmächtig geworden. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus. Die waren völlig außer sich, konnten sich nicht erklären, was passiert war. Die haben mich ausgefragt, stundenlang. Und irgendwann bin ich durchgebrannt. Jaron hat mich gefunden und zu ein paar Leuten gebracht." Sein Gesicht verzog sich bei dem Wort Leute und ich war mir sicher, dass es besser war, nicht darauf einzugehen. Wir deckten den Tisch und nach und nach erwachten auch die anderen. Wir setzten uns, frühstückten und Ryan erklärte den heutigen Tagesplan.

Wir saßen draußen auf einem umgekippten Baumstamm. Seit dem Frühstück waren knapp drei Stunden vergangen. Wolken zogen über den Himmel, aber die Sonne ließ sich immer wieder blicken, als würde sie Fangen mit den Wolken spielen. Auf Ryan's Knien lag ein Stadtplan. "Also. Der Kompass wurde ja - Gerüchten zufolge - in Mariager gefunden." Er deutete auf einen kleinen Fleck auf der Karte. "Ein Mann hat ihn wohl beim Spaziergang gefunden. Natürlich kamen sofort die Wissenschaftler und haben das gesamte Gebiet umzäunt und gesperrt. Sie haben ein Zelt aufgebaut und ständig kommen neue Leute und andere gehen wieder raus und sie versuchen festzustellen, mit was sie es zutun haben. Natürlich kommen sie nicht drauf. Es gibt ein ziemlich simples Einschaltsystem für den Kompass, soweit ich das weiß, aber er kann nur von uns Lichtbringern benutzt werden. Für normale Menschen sieht er aus wie ein normaler Kompass, nur dass er statt den Windrichtungen Jahreszahlen anzeigt und leuchtet wie 'ne Glühbirne. Der Plan sieht folgendermaßen aus: Nevio und Lia fahren in die nächste Stadt und machen ein paar Besorgungen. Ich hab euch 'ne Einkaufsliste geschrieben. Hier " Ryan reichte Nevio einen Zettel, der überflog ihn kurz, runzelte die Stirn und gab ihn an Lia weiter. Auch sie sah leicht verwirrt aus, sagte aber nichts. Ryan reichte ihnen einen Stapel Geld. "Keine Sorge, ist sowieso nicht mein Geld." Er fuhr fort: "Leyen und Thalia fahren nach Mariager. Ihr guckt euch das Zeug an, dass die Wissenschaftler da hochgezogen haben und schreibt alles auf. Ich möchte 'ne Karte von dem Gelände, 'nen Plan wann die Wachleute wechseln und wann wer dran ist und wie man in das Zelt, dass sie aufgebaut haben, reinkommt. Also Ausweis oder Gesichtserkennung oder sowas." Weder Leyen noch ich waren sonderlich erfreut darüber, mit dem jeweils anderen zusammen in einem Team zu sein, aber wir bissen nur die Zähne aufeinander und sagten nichts. Leyen war an sich recht still, seit Ryan zu uns gestoßen war. Er sah zwar immer noch durchgängig mies gelaunt aus, hielt aber seine sarkastischen Bemerkungen und Einwände für sich. "Super." Ryan lächelte. "Und was machst du unterdessen?" fragte Leyen. Ryan sah zu der Hütte, in der er wohnte. "Och, ich werde ein wenig aufräumen und vielleicht einen Kuchen backen, damit ihr was zu schlemmen habt, wenn ihr wiederkommt. Naja, und außerdem werde ich mir einen Plan ausdenken, wie wir morgen an diesen Kompass kommen. Meist du, das reicht?" Ryan sah Leyen an, als erwarte er wirklich eine Antwort. "Kuchen klingt gut." warf Nevio ein und als wäre das unser Startschuss, erhoben wir uns, warfen uns unsere Rucksäcke über die Schultern und gingen los.

Der Bus war überfüllt, sodass ich mich wohl oder übel neben Leyen setzen musste. Wir redeten kein Wort miteinander, nicht einmal als der Bus in Mariager hielt und wir als einzige ausstiegen. Wir redeten auch nicht, nachdem Leyen sich bei dem Verkäufer eines kleinen Ladens erkundigt hatte, wo genau die Wissenschaftler ihr Labor hatten und auch nicht, als wir das riesige Zelt schon von weitem sahen und näher herangingen. Wie ein weißes Flaggschiff tauchte es am Horizont auf und man sah ihm an, dass es einen Schatz enthielt. Leyen brach erst das Schweigen, als wir einen Hügel bestiegen und uns auf eine Bank setzen. Von unten würde es so aussehen, als wären wir normale Touristen, die die Natur bestaunten und sich eine kleine Pause von ihrer Wanderung gönnten, doch von hier oben hatten wir alles im Blick. Wir sahen Männer und Frauen in langen weißen Kitteln, die geschäftig hin und her wuselten, sich mit anderen austauschten und wieder im Zelt verschwanden. "Ich würde sagen, du übernimmst das Zeichnen und ich den Wachen-Wechsel-Plan, okay? Ich bin nämlich eher der Beobachter als der Künstler." meinte der Feuerjunge. Ich zuckte nur die Schultern und zog einen weißen Block und einen Bleistift aus meinem Rucksack und begann, die Umrisse des Hügelkams zu zeichnen, die das Zelt umgaben. Zugegeben, ich war auch kein Profi im Malen, aber ich wollte nicht mit Leyen diskutieren. Während er die Leute beobachtete, zog er wieder Werkzeuge und anderes Zeug, dass ich nicht benennen konnte, aus seinem Rucksack und bastelte daran herum. "Wo hast du das gelernt?" traute ich mich nach einer Zeit zu fragen. Er hielt einen kleinen Menschen in der Hand. "Das?" Leyen sah auf das Männchen. Ich nickte. "Ich weiß nicht. Ich hab schon immer aus allem möglichen Zeug gemacht." Er betrachtete seine kleine Schöpfung. "Wenn ich noch einen winzigen Motor bauen könnte, könnte er sich sich bewegen. Ich werd mal Ryan fragen, ob er was hat." sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. Dann trat wieder Stille ein.
Es nahm knapp zwei Stunden in Anspruch. Wir redeten nicht viel. Hin und wieder wiesen wir uns auf einen Fehler bei dem anderen hin oder teilten die Brötchen auf, die wir uns mitgenommen hatten. Wir waren beide erschöpft, als wir wieder im Bus saßen und als wir in der Hütte auf Ryan, Nevio und Lia trafen, sah nur Ryan frisch und glücklich aus. Lia lag erschöpft auf ihrem Schlafsack und erzählte uns, dass ihr Bus unterwegs einen Motorschaden hatte und kein Ersatz kommen konnte. So mussten sie und Nevio vier Kilometer zu Fuß gehen, bis sie die nächste Stadt erreichten und dann waren dort die meisten Läden geschlossen gewesen. Ryan servierte uns lächelnd seinen Kuchen und nahm die Einkäufe und unsere Notizen an sich und betrachtete alles eingehend. Und dann erzählte er uns von seinem Plan. Wir hielten ihn alle für einen genialen Verrückten, als er geendet hatte. Bis spät in die Nacht waren wir mit Planen, Sortieren und Fotos schießen beschäftigt.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt