Kapitel 6

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Der Geruch von frischer Wäsche. Und Stimmen. Das war das erste was ich wahrnahm. Und die weiche Decke in die ich gehüllt war. Es fühlte sich wunderbar an und ich wollte die Augen einfach geschlossen lassen, für immer. Nie wieder öffnen und mein Leben lang nichts anderes mehr tun, als den vielen Stimmen zu lauschen, mich in die Decke einzukuscheln und die fremden Gerüche in mich einzusaugen. Doch ich wusste, dass das nicht ging. Also öffnete ich widerwillig die Augen. Gleißendes Sonnenlicht blitzte mir entgegen und ich wollte die Hand vor meine Augen heben, um sie vor dem Licht zu schützen, doch mein Arm war schwer wie Blei und ließ sich nicht bewegen. Ich stöhnte und drehte meinen Kopf auf die Seite. Ein riesiger Raum erstreckte sich vor mir, ach was ein Saal! Die eine Wand, auf die meine Füße zeigten, bestand vollkommen aus Glas. Wie ein riesiges Fenster, dass in eine wunderbare Welt einlud. Denn hinter dem Glas war der schönste Garten den ich jemals gesehen hatte. In ihm waren Bäume, die mindestens fünf Meter in den strahlend blauen Himmel ragten. Sie trugen die seltsamsten Früchte die ich je gesehen hatte. Von blaukariert über rosagepunktet bis hin zu regenbogenfarben, die Früchte hatten die unterschiedlichsten Farben. Und Größen: Es gab dort mandel- und apfelgroße, aber auch welche die die Größe eines Fußballs hatten. Ein Fluss blinkte mir zwischen den Bäumen entgegen. Bunte Vögel hatten sich auf den Ästen der Bäume niedergelassen und hackten mit ihren Schnäbeln Löcher in die köstlich aussehenden Früchte. Nur zu gern wäre ich aufgesprungen und in den paradiesischen Garten gelaufen, doch mein Zustand verhinderte dies. Ich riss meinen Blick von dem Fenster und sah mir wieder den Saal an. Er war gefüllt mit weißen Betten. Die meisten waren leer, doch ein paar Decken hoben und senkten sich rhythmisch, als würden unter ihnen friedlich Menschen schlafen. Zwischen all den Betten liefen kleine Menschen mit weißen Arztkitteln herum. Sie hatten Klemmbretter, auf die sie die ganze Zeit etwas schrieben. Ich sah sie mir genauer an und erkannte, dass es keine kleinen Menschen sondern Kinder waren. Normale Kinder wie ich. Nun gut, ich war nicht ganz normal. Warum waren hier keine Erwachsenen? Plötzlich wurde an dem Ende des Saals eine riesige Flügeltür geöffnet, die mir vorher gar nicht aufgefallen war. Sie bestand, soweit ich das erkennen konnte, aus braunem Holz und sah ziemlich schwer zu öffnen aus. Doch der Junge der nun eintrat, schob die beiden Flügel mit Leichtigkeit zur Seite. Die Kinder in den Kitteln schauten nur kurz von ihren Notizen auf, nickten dem Jungen zu und kritzelten dann weiter auf ihren Klemmbrettern herum. Der Junge ging schnellen Schrittes an den Betten vorbei. Er blieb bei einem der Arztmädchen stehen und redete eindringlich auf sie ein. Dabei machte er ständig wilde Gesten in meine Richtung. Das Mädchen sah mich kurz an und nickte dann. Der Junge murmelte etwas und kam dann auf mich zu. Er zog sich einen Stuhl an mein Bett, setzte sich und sah mich an. Seine braunen Haare fielen ihm bis auf die Schultern und hingen ihm in die grünen leuchtenden Augen. Er trug nicht wie die Ärzte einen Kittel, sondern ein dunkelblaues T-Shirt auf dem eine rote Flamme aufgestickt war, die so echt aussah, dass ich das Gefühl hatte, sie bewegte sich. Seine schwarze Hose hatte er ein Stück hochgekrempelt, fast als wollte er, dass man seine roten Sneekers auf keinen Fall übersah. "Na, du Schlafmütze?" fragte er lächelnd und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. Er sprach mit leichtem Akzent. Ich überlegte ob ich ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte, aber ich fand in meinen Erinnerungen keinen so gutaussehenden Jungen. "K...kennen wir uns?" fragte ich verunsichert. Er lachte. Es war ein schönes Lachen. Voller Wärme und Glückseligkeit. Ich schloss den Fremden sofort in mein Herz. "Nein, nicht dass ich wüsste. Jemals in England gewesen?" Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte dieses Land noch nie verlassen. Eigentlich hatte ich noch nichts von der Welt gesehen bis auf den Hof des Kinderheims und das innere des großen Hauses. Und bis auf die schönen Landschaften die ich aus dem Transporterfenster beobachtet hatte. Mein größter Traum war es mehr von unserem Planeten zu sehen. Andere Dörfer, Städte, Länder zu besuchen. "Schade." sagte der Junge. "Warum?" fragte ich verwundert. "Es ist ein sehr schönes Land. Mit den wunderbarsten Sehenswürdigkeiten die du jemals finden wirst. Hast du schon mal Bilder vom London Eye, von der Tower Bridge oder dem Buckingham Palace gesehen?" Begeistert nickte ich. In der Schule war das eines meiner Lieblingsthemen gewesen. Und eines der wenigen Themen wo ich eine gute Note bekommen hatte. "Die musst du dir mal angucken. Wenn du Lust hast, kann ich dich ja mal mitnehmen." schlug der Fremde vor. Was?! Hatte ich gerade richtig gehört? "Ich kenne dich doch gar nicht." erwiderte ich. Der Junge schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und rief:" Natürlich! Wo sind meine Manieren?! Nevio mein Name, aber du kannst mich gerne Nev oder Vio nennen, oder was auch immer dir sonst für dämliche Spitznamen für mich einfallen." Er machte eine übertriebene Verbeugung. "Und mit welcher Schönheit habe ich es zu tun?" Ich kicherte kindisch. "Thalia, doch der feine Herr darf mich auch Thal oder Lia rufen. Wie es ihm genehm ist." Nevio grinste und setzte sich wieder auf den Stuhl. Stille trat ein und ich überlegte fieberhaft, was ich zu ihm sagen könnte. Weiter über England reden? Ihn fragen, was er für Hobbys hatte oder warum er sich zu mir und nicht zu den anderen gesetzt hatte? Nein zu aufdringlich. Dann stellte ich ihm die Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte:" Wo sind wir hier?" Nevio sah sich um und erwiderte:" Wie sieht's denn aus?" Ich dachte nach. "Hm...wie ein Krankenhaus. Ein seltsames Krankenhaus. Mit dem schönsten Vorgarten den ich je gesehen habe." Der Junge lachte. "Naja fast. Wir nennen diesen Raum das Lichterzimmer. Keiner weiß wieso es so heißt. Vielleicht weil es hier so hell ist. Vielleicht aber auch weil hier die Lichtbringer wieder geheilt werden. Ich weiß es nicht." Bei einem Wort stutzte ich. Lichtbringer. "Was sind diese Lichtbringer denn eigentlich?" "Ach das wirst du noch früh genug herausfinden. Jetzt steh erst einmal auf und komm mit." sagte Nevio und stand auf. Ich versuchte mich aufzusetzen und bewegte meine Arme. Jetzt ging es wieder. Ich konnte meine Gliedmaßen wieder bewegen. Ich strich die Decke zur Seite und hob meine Beine über den Bettrand. Das einzige was ich trug, war ein weißes Nachthemd das mir bis über die Knie fiel. Meine Füße waren nackt und als ich sie auf den kalten Boden stellte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Nevio betrachtete mich kurz, was mir leicht unangenehm war, und führte mich dann zu einem kleinen Schrank neben meinem Bett. Erst jetzt fiel mir auf, dass neben jedem Bett so ein Schrank war. Sie waren ungefähr einen Meter groß und fünfzig Zentimeter breit. Nevio öffnete den Schrank und zum Vorschein kamen: meine Klamotten, die ich anhatte, bevor ich im Transporter eingeschlafen war. Ich streckte meine Hand aus, aber Nevio schüttelte den Kopf. Ich sah ihm verdutzt in die grünen Augen. Sie waren voller Mitgefühl. "Tut mir leid." sagte er. "Aber du musst dich hier an unsere Regeln halten. Und die besagen nun mal, dass wir keine eigene Kleidung tragen dürfen. Wir laufen hier alle im Einheitslook rum. Glaub mir, keinem gefällt das, aber wir müssen uns an die Regeln halten. Du bekommst das hier." Er zog aus dem oberen Fach einen Stapel und gab ihn mir. "Zieh dich da drüben um." Er zeigte auf drei Umkleidekabinen. Ich nickte und ging auf eine von ihnen zu. Sie war eng, aber gerade groß genug damit ich mich in dem vorhandenen Spiegel betrachten konnte. Die Kleidung die er mir gegeben hatte, sah so ähnlich aus wie die die er selber trug. Nur das ich statt einer Hose einen Rock hatte. Und dass ich ein komplett schwarzes T-Shirt trug. Nicht wie Nevio mit einer Flamme. Ich runzelte wütend die Stirn als ich den Rock über meine Beine streifte. Ich hasste Röcke und Kleider. Als ich fertig war, hängte ich mein Nachthemd über einen Haken an der Kabinenwand und ging dann zurück zu dem Jungen. "Wow." sagte er. "Sieht's sehr doof aus?" fragte ich und sah an mir herunter. Diese Frage klang so kindisch und ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen, doch Nevio antwortete:" Nein gar nicht. Du siehst wunderhübsch aus." Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht stieg, obwohl ich ihm kein Wort glaubte. Kein Mensch konnte in einem einfachen schwarzen T-Shirt, einem Rock und roten Sneekers wunderhübsch aussehen! Nevio wurde auch rot und eine peinliche Stille trat zwischen uns. Irgendwann unterbrach er sie, in dem er mich an der Hand nahm, "Komm." sagte und mich zur Tür zog. Am liebsten hätte ich meine Hand weggezogen, aber er hatte einen starken Griff. Die Arztkinder sahen uns hinterher, als wir auf die große Flügeltür zugingen. Mit seiner freien Hand schob Nevio sie auf und ich spürte wie mir die Kinnlade herunterklappte.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt