Kapitel 15

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Das Flugzeug war eng und klein. Ich saß am Fenster, Lia in der Mitte und ganz außen saß ein älterer Mann, der summend seine Zeitung las. Nevio, Leyen und Ryan saßen in der Reihe hinter uns. Am Flughafen hatten lauter Leute gestanden, die Schilder mit allen möglichen Namen in die Luft gereckt hatten, um ihre Passagiere zu finden. Doch uns war sofort ein Junge aufgefallen, der ein großes Schild in die Höhe hielt, auf dem stand: EIN HAUFEN VERRÜCKTER KIDS AUF WELTRETTUNGSAKTION. Nevio war grinsend auf ihn zugelaufen, hatte ihm auf die Schulter geklopft und sich vorgestellt. Wir anderen waren zurückhaltender gewesen. Wie sich herausstellte, war er der Junge, zu dem Jaron uns geschickt hatte. Ryan war ... geheimnisvoll. Nach den drei Stunden, in denen wir ihn nun schon kannten, wusste ich nur seinen Namen und sein Alter. Er war nicht schüchtern, aber er redete einfach nicht viel über sich selbst. Ryan war ziemlich dünn und klein für sein Alter, kaum größer als ich. Nevio und er hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Die ersten Probleme hatte es gegeben, als unsere Rucksäcke gewogen wurden. Keiner von ihnen brachte mehr als drei Kilo auf die Waage, was die Angestellten ein wenig verwunderte, weil unser Rückflug erst für in fast einem Monat angesetzt war. Ryan hatte erklärt, dass wir zu unseren Großeltern nach Dänemark ziehen würden, weil unser Vater im Krankenhaus lag und unsere Mutter viel zu tun hätte. Unser Gepäck würde mit unserer Mutter nachkommen, meinte er. Der junge Angestellte hatte uns der Reihe nach angesehen und gefragt: "Fünflinge? Dafür seht ihr aber extrem verschieden aus." Ryan hatte lächelnd geantwortet: "Waisenkinder. Wir wurden allesamt adoptiert." Was gar keine richtige Lüge war, so weit ich wusste. Der Mitarbeiter der Fluggesellschaft war immer noch nicht ganz überzeugt gewesen, doch als Nevio Lia den Ellbogen in die Seite gestoßen und diese dem Mann daraufhin verführerisch zugezwinkert hatte, waren alle Zweifel plötzlich wie weggeblasen gewesen. "Einen wunderbaren Flug." hatte er uns nur gewünscht, Lia zugelächelt und uns durchgelassen. Mir war es ein Rätsel, wie Lia es schaffte, die Männer um den Finger zu wickeln. Beim Durchleuchten der Rucksäcke war es nicht viel anders verlaufen. Nur dass Ryan diesmal die Erste-Hilfe-Sets, die Tarnkleidung, die Werkzeuge in Leyen's und die Seile und verschiedenen anderen kuriosen Dingen in Nevio's Rucksack erklären musste. Wir wären Hobby-Bergsteiger und wollten Ausbildungen bei der Polizei machen, wenn wir älter wären, sagte er. Unser Flieger war für 16 Uhr angesetzt, weshalb wir zwei Stunden warten mussten. Leyen hatte gestöhnt, aber Nevio war so voller Eifer durch die Läden des Flughafens gelaufen, dass wir kaum Schritt halten konnten. Irgendwann hatten wir es aufgegeben, uns auf eine Bank gesetzt und ihm dabei zugesehen, wie er sich Süßigkeiten und Drinks kaufte. Es war schön, ihn so ausgelassen zu sehen, bis Ryan seine Freude zerstörte, als er ihm sagte, dass er keine Drinks mit ins Flugzeug nehmen durfte. Nevio hatte versucht, seine Getränke zurückzugeben, musste es aber bald aufgeben. Aus lauter Frust so viel Geld ausgegeben zu haben, meinte er, es könne nicht schaden, jetzt auch noch mehr Geld rauszuwerfen. Und so lud er uns alle auf einen Burger ein. Das entlockte sogar Lia ein leichtes Lächeln. So hatten wir uns den Bauch vollgeschlagen, bis Ryan sagte, dass es Zeit wäre, zu den Kontrollen zu gehen. Und von da an hatte Nevio Panik geschoben. Er hatte gedrängt, umzudrehen, und sich gewehrt, als wir ihn durch die Metalldetektoren zwingen mussten. Darauf war der Sicherheitsdienst aufmerksam geworden und Nevio wurde zur Seite genommen, um auf Drogen durchsucht zu werden. Nach geschlagenen zwanzig Minuten, in denen Ryan auf sie einredete, hatten sie die Suche aufgegeben und uns gehen gelassen. Leyen war ziemlich wütend gewesen, aber Lia konnte ihn davon abhalten, den Kiosk in Brand zu setzen. Fast hätten wir unseren Flieger verpasst, aber gerade rechtzeitig schafften wir es, einzusteigen und unsere Plätze einzunehmen. Leyen setzte sich seine Kopfhörer auf und bastelte irgendetwas aus kleinen Drähten. Kurz fragte ich mich, wie er die durch die Kontrollen bekommen hatte. Dann fiel mir ein, dass ich ihn schon öfter mit solchen Dingen gesehen hatte. Er war gut, bemerkte ich, als ich ihn beobachtete. Innerhalb einer Minute hatte er aus den Drähten einen faustgroßen Hund gebastelt, der so echt aussah, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er plötzlich bellend auf Leyen's Schoß gesprungen wäre. Fasziniert sah ich zu, wie er ihn wieder auseinander nahm und etwas neues baute. Als Leyen mir einen grimmigen Blick zuwarf, sah ich schnell woanders hin. Ryan versuchte Nevio abzulenken, dessen Gesicht einen nun vielmehr grünen als bleichen Ton angenommen hatte und der seine Finger so fest in die Armlehnen grub, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Lia zog unterdessen ein dünnes Fotoalbum aus ihrem Rucksack und betrachtete verträumt die Bilder darin und ich schaute aus dem Fenster. Ruckelnd setzte sich der Flieger in Bewegung. Aufgeregt verfolgte ich, wie wir immer schneller auf der Startbahn wurden und uns dann plötzlich in die Lüfte erhoben. Jetzt flog ich auch! Wie die Vögel, die ich immer im Heim beobachtet hatte. Mein Magen kribbelte und ich sah begeistert aus dem Fenster, um zu sehen, wie die Welt immer kleiner wurde. "Na, Mädchen. Ist wohl dein erster Flug, was?" fragte mich der Mann, der am äußeren Rand unserer Sitzreihe saß. Er hatte die Zeitung zusammengerollt auf dem Schoß liegen. Ich nickte. "Was habt ihr Kids denn vor in Dänemark?" erkundigte er sich. Nevio antwortete hinter uns: "Die Welt retten, wissen Sie. Wir sind die jugendlichen Avengers." Ich drehte mich zu ihm um. Er lächelte gequält und versuchte, nicht aus dem Fenster zu sehen. Warum erzählte er dem Mann das? Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, dass Jaron uns verboten hatte, darüber mit fremden Personen zu reden, aber trotzdem gefiel mir das nicht. Doch der ältere Mann lachte nur: "Das sind aber große Ziele. Also, als ich in eurem Alter war, haben wir uns noch mit leichteren Aufgaben beschäftigt. Ganz schön mutig euch an die Weltrettung heranzuwagen." Nevio nickte nur und versuchte sich weiter mit dem Mann abzulenken. Ich nahm mein Flugticket aus meiner Jackentasche und betrachtete es gedankenverloren. Mrs. Thalia Ferrum. Da stand er. Mein Nachname. Auf einem Flugticket. Sichtbar für die Welt. Sichtbar für mich. Er bewies, dass ich Eltern hatte. Er bewies, dass ich eine Familie, vielleicht Geschwister, ein Leben außerhalb meiner Verlorenheit, ein Zuhause hatte. Hoffnung kämpfte gegen Wut und Trauer, als ich den Namen betrachtete. Ich hatte eine Familie. Irgendwo da draußen. Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die kleine Welt unter mir, die kleinen Menschen, die ein glückliches, schönes Leben führten und von hier oben nichts als winzige Punkte waren. Ich hatte eine Familie. Die mich im Stich gelassen, mich weggegeben, mich hintergangen hatte. Die mich vergessen, sich nicht an mich erinnern wollte, so wie ich mich nicht an sie erinnern kann, weil es zulange her ist. Das Ticket verschwamm hinter den Tränen in meinen Augen, als ich es in meiner Faust zerknüllte. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Rückenlehne und schloss die Augen.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt