Kapitel 19

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Das nächste, was ich spürte, war rauer Asphalt unter meinen Knien. Harter, rissiger Beton. Ich kippte nach vorne, wollte mich mit den Armen abfangen, schaffte es aber nicht, sie zu bewegen. Ich schlug mit dem Kinn auf und ein stechender Schmerz zuckte durch meine Arme, meine Beine, meine Wirbelsäule hinauf zu meinen Schultern und durch meinen Schädel. Schrecklicher Schmerz. Als hätte mir jemand bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte mein Gesicht nicht drehen und meine Augen nicht öffnen, um zu sehen, wo die anderen waren. Denn ich war doch mit anderen Menschen hier, oder? Aber das zählte nicht. Alles was zählte war der Schmerz. Ich wusste nicht, wie lange ich reglos da lag und stöhnend darauf wartete, dass die Wunden verheilten. Denn da waren doch Wunden? Da mussten welche sein! Sonst könnte doch der Schmerz nicht existieren. Oder? Dann hörte ich plötzlich ein vertrautes Stöhnen neben mir. "Nevio?" fragte ich. "Kannst du dir bitte mal einen Spitznamen für mich ausdenken, Thalia? Nevio klingt ungemein lächerlich. Wie ein Prinz aus einem Märchen. Nicht dass der irgendeine Chance gegen mich hätte." Seine Stimme klang gepresst, als würde er seine Zähne aufeinanderpressen. Ich erkannte daran, dass auch er Schmerzen hatte. "Ist das dein einziges Problem gerade? Ein Spitzname?" zischte ich zurück, doch es klang nicht so wütend wie gedacht, sondern gedämpft und erstickt, weil mein Gesicht auf den Boden gepresst war. Als Antwort stöhnte Nevio nur. Ich überlegte kurz. "Okay, wie wär's mit Neyo?" Nevio brauchte einen Moment, um zu antworten. "Mit oder ohne y?" "Mit." erwiderte ich. "Warum denn mit y? Wo ist denn in meinem Namen ein y?" "Keine Ahnung. Sieht einfach schöner aus, wenn du's schreiben würdest. Neo ohne y, erinnert mich so an Neon." Nevio lachte gedämpft. "Na wenn du meinst." "Habt ihr's dann?" fragte jemand irgendwo links von mir. Es war unverkennbar Leyen. "Hey, Spitznamen sind eine ernste Sache, Mann!" rief Nevio. "Aber doch nicht in so einer Situation! Und wehe, irgendwer denkt sich einen für mich aus! Ich habe eine Waffe." warnte Leyen. "Kapiert, Ley." antwortete Nevio und ich lächelte ein wenig, ließ es aber sofort wieder bleiben, als ein heißer Schmerz durch mein Gesicht wanderte. "Leute?" fragten Ryan und Lia gleichzeitig. Wir antworteten alle im Chor: "Ja?" Ryan keuchte. "Gut, dann hätten wir das. Was seht ihr?" "Gras." Nevio. "Einen verkohlten Baumstamm." Lia. "Dunkle Wolken." Leyen. " Und du, Thalia?" fragte Ryan. "Nichts, ich kann meine Augen nicht öffnen." "Okay. Könnt ihr euch aufsetzen?" fragte er weiter. Alle stöhnten und ächzten, als sie es versuchten. Ich bewegte erst ganz leicht meine Finger, um wieder ein Gefühl in sie zu bekommen. Dann meine Arme. Ich keuchte, als die Wunden wieder aufzureißen schienen. Ich stemmte meine Arme unter meinen Körper und drückte mich ganz leicht hoch. Doch das war zu viel. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken und mir wurde so schwindelig, dass ich mich zurück auf den Boden fallen ließ. "Ich schaff's nicht." nuschelte ich. Aber wenigstens konnte ich jetzt meine Augen einen Spalt weit öffnen. Ich sah ... Nevio's Hinterkopf. Ein leichter Wind wehte durch seine braunen Haare und diese in sein Gesicht. Er fluchte, strich sie aber nicht zur Seite, weil er sich schon fast vollständig aufgesetzt hatte. Als er dann wirklich saß, die Beine in einem seltsamen Winkel zur Seite gedreht und die Hände vor Schmerz zu Fäusten geballt, stieß er einen gequälten Jubelschrei aus. "Angeber." murmelte Leyen gerade laut genug, damit wir alle es hören konnten. Das nächste was ich vernahm, waren Lia und Leyen, die ebenfalls bestätigten, dass sie aufrecht saßen. Dann spürte ich starke Arme, die sich unter meinen Bauch schoben und mich hochhoben, bis ich auf wackligen Beinen stand. Ich versuchte, den Schmerz auszublenden und klammerte mich an Ryan's Hals, um nicht umzufallen. Er legte mir sicherheitshalber die Arme um die Taille und zog mich an seine Brust. Ich genoss seine Nähe. "Süß." stöhnte Leyen und es klang eher, als würde er kurz davor sein, sich zu übergeben. Ich wollte mich von Ryan losmachen, aber sobald ich ihn losgelassen hatte, gaben meine Beine nach und ich kippte zur Seite weg. Doch sofort fing Ryan mich auf und legte mir einen Arm um die Schultern. Ich klammerte mich an seinen Pullover. "Okay, wo sind wir?" fragte Nevio, der sich gerade an einem schwarzen Stück Holz hinaufzog und dann versuchte, sein Gleichgewicht zu halten. Leyen stand bereits, Lia hatte gar nicht versucht aufzustehen, sondern saß wieder mit diesem leeren Blick auf dem Boden. Es wurde allmählich gruselig. Und dann sahen wir uns alle um, keuchten und ich stieß einen spitzen Schrei aus. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Das konnte nicht sein! Wir standen auf einer Straße, oder was davon übrig war. Lange Risse zogen sich wie Narben durch den Beton, keine hundert Meter von uns entfernt klaffte ein riesiger Spalt. Eine mindestens fünfzig Meter lange und zwanzig Meter breite Kluft. Ein gähnender Schlund, gefüllt mit Dunkelheit und Verderben, bereit, alles zu verschlingen, dass ihm zu nah kam. Ich wich automatisch einen Schritt zurück und wäre beinahe wieder über etwas gestolpert, hätte Ryan mich nicht immer noch im Arm. Ich schaute runter auf meine Füße. Es war die zerbeulte Tür eines Autos. Ich suchte den Rest des Fahrzeugs und fand ihn schließlich neben einem großen verkohlten Holzhaufen. Es war nach vorne gekippt und steckte mit der Front in einem weiteren Spalt. Es war ein schwarzer Geländewagen. "Oh mein Gott!" rief Ryan und wollte zu dem Auto laufen. Da ich aber an seinem Rücken hing, blieb er stehen. "Was ist?" hauchte ich. Ryan zeigte auf den Wagen. "Das ist mein Auto. Mein Geländewagen! Nicht mal meiner! Oh Gott, der war nur geliehen! Der war noch nicht mal abbezahlt. Aiden wird mich umbringen." Er schlug sich eine Hand vor die Augen. "Aber wenn das dein Auto ... ist" Ich hatte kurz überlegt, war zu sagen, aber als ich Ryan's Gesicht sah, änderte ich die Zeitform schnell. "Wo ist dann deine Hütte?" Und dann fiel mein Blick auf den verkohlten Holzstapel. Das durfte doch nicht wahr sein! Da hatten wir vor wenigen Minuten noch drin gesessen und unsere Rucksäcke gepackt. "Meine Fresse." meinte Leyen, aber nicht wegen Ryan's Hütte oder seinem Auto. Er deutete auf etwas, dass hinter dem Wald lag. Dem ehemals schönen, üppig bepflanzten Wald. Der jetzt nichts weiter war als viele umgekippte, zerbrochene und verbrannte Stämme. Dahinter ragte der Kirchturm von Vester Tørslev in den dunklen, von Blitzen durchzuckten Himmel. Das Dach war vollkommen verschwunden, die Glocke war eingedellt und an manchen Stellen geschmolzen - jedenfalls sah es von hier so aus. "Wenn es hier und in Vester so aussieht, wie sieht es dann in großen Städten aus?" fragte Nevio leise. "Lasst es uns herausfinden. Wir müssen sowieso den Spuren der Verwüstung folgen, um zu dem Ursprung zu kommen." schlug Ryan vor. Nevio lachte gequält. "Und wie willst du das anstellen? Hier ist kein Fahrzeug, das du fahren kannst. Die sind alle hin." Er zeigte auf zwei weitere Autos, die völlig zerschrottet am Straßenrand standen. "Nicht mehr lange." rief Leyen, ging zu Ryan's Geländewagen, besah ihn sich von allen Seiten und fauchte dann: "Was ist? Helft mir, ihn rauszuziehen!" Wir gingen eilig zu ihm und zogen alle mit Leibeskräften an dem Fahrzeug. Es steckte nicht sehr tief in dem Spalt und als Leyen uns sagte, was wir anders machen und wie und wo wir ziehen müssten, ging es ganz schnell. Trotzdem standen wir danach alle schnaufend auf der Straße und waren völlig fertig, zumal der Sprung in die andere Zeit noch immer nicht ganz abgeklungen war. Wir alle waren ausgelaugt. Alle außer Leyen. Der bastelte schon an Ryan's Wagen herum, öffnete hier und da Klappen, von denen ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten, schraubte hier und da herum, bastelte an Kabeln und steckte seinen Kopf in den Innenraum des Autos, in den Kofferraum und unter die Motorhaube. Wir anderen sahen uns unterdessen um, doch wir sahen nur eine Welt, die eben noch fröhlich und voller Leben und jetzt, 10 Minuten - oder besser gesagt 2 Monate - später, völlig weg war. Alles zerstört. Unsere Welt gab es nicht mehr. Ich wollte weinen, jetzt in diesem Moment. Es war mir egal, was die anderen sagen würden. Ich wollte unsere alte Welt betrauern, wie sie es verdient hatte und nicht dastehen, als hätte sich nichts verändert. Als hätte mir die Welt nichts bedeutet. Denn trotz allem hatte sie das. Aber ich konnte nicht weinen. Und das machte mich wütend. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich wollte die Ursachen für diese Zerstörung finden und sie vernichten. Ein für alle Mal. "Gut, ich hab's." unterbrach Leyen meine Gedanken und wir stiegen alle ins Auto. Leyen wollte als Gegenleistung für die Reparatur wieder selbst ans Steuer. Ryan behagte das nicht. Er vertraute Leyen, da dieser den Geländewagen schon einmal gefahren war, aber es missfiel ihm, nicht selbst zu fahren, zumal er sein Auto eben noch für tot erklärt hatte, aber Leyen gab nicht auf und am Ende saß der Feuerjunge tatsächlich auf dem Fahrersitz. Ich quetschte mich zwischen Lia und Nevio auf die Rückbank. Dann gab Leyen Gas.

Wir hatten kein bestimmtes Ziel. Genau genommen, gar keins. Leyen fuhr einfach durch die Gegend und immer wenn einer von uns "Links!" oder "Nach rechts!" rief, änderte er die Richtung. Wir wollten uns einen ungefähren Plan der Verwüstung machen und nach Menschen oder Tieren suchen. Doch wir fanden nichts. "Wie in 'nem Horrorfilm. Alles zerstört, kein Leben zu sehen und gleich springen ein paar Halbtote auf die Frontscheibe." Nevio grinste. Mir war gar nicht nach Lächeln zumute. Allein von der Vorstellung, wir wären die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, wurde mir so übel, dass ich mich zurückhalten musste, um mich nicht in Ryan's Auto zu übergeben. Lia zog wieder ihr Fotoalbum aus dem Rucksack und ihr Gesicht wurde ruhiger aber auch trauriger, als sie die Bilder betrachtete. Gerne hätte ich ihr über die Schulter geschaut, aber die Übelkeit wollte einfach nicht abklingen. Wir fuhren stundenlang über zerstörte Straßen, Feldwege und durch verbrannte Wälder, sahen uns um und suchten nach Anzeichen auf Leben. Ryan schoss Fotos von der Umgebung mit seiner Kamera und wir aßen die Brötchen, die wir uns - vor langer Zeit - in Ryan's Hütte gemacht hatten. Es wurde immer dunkler, bis wir schließlich nichts mehr erkennen konnten außer das Licht der Scheinwerfer auf dem Asphalt. Als wir immer leiser die Lieder im Radio - das Leyen ebenfalls repariert hatte - mitsangen und allmählich müder wurden, hielt Leyen am Straßenrand und wir klappten die Sitze um und legten uns mit unseren Schlafsäcken in den großen Kofferraum. Mir blieb nicht viel Zeit um darüber nachzudenken, was mit unserem Planeten passiert war, bevor meine Augen schwer wurden.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt