Kapitel 18

47 6 1
                                    

Wir saßen in einem Kreis um den Kompass herum auf dem Boden. Draußen regnete es in Strömen und es stürmte. Wir hatten auf unserem Rückweg einen Umweg fahren müssen, weil es einen Verkehrsunfall gegeben hatte. Es war kalt und Ryan hatte keine Heizung. Deshalb saßen wir zitternd in unseren Schlafsäcken und betrachteten das kleine Ding eingehend. Leyen hatte es auseinandernehmen und untersuchen wollen, aber Ryan hatte es ihm ausdrücklich verboten. Das passte Leyen gar nicht. Er ließ sich nicht gerne etwas vorschreiben. Aber so musste er sich mit Betrachten zufrieden geben. Der Kompass passte ungefähr auf meine Handfläche. Er war rund und hatte einen Deckel, damit man ihn zuklappen konnte. Ryan hatte versucht, herausfinden, aus welchem Material der Kompass war, aber er hatte seine Suche bald aufgegeben. Das Material war so alt, dass wir selbst im Internet nichts darüber fanden. Auch die Farbe war nicht genau bestimmbar. Sie schien sich im Licht zu verändern. Mal war es Braun, mal Silber, mal Schwarz dass wir uns ansahen. Doch meistens leuchtete er golden. Der Deckel wölbte sich nach oben und jemand hatte Pflanzen in die glatte Oberfläche geritzt. Wunderschöne Blumen. Aneinandergereiht zu einer Kette, dicht ineinander verwoben, miteinander vereint. Sie rankten um eine Waage herum, verwoben ihre Hälse mit den Balken und Waagschalen. Lia öffnete vorsichtig den Deckel und trat dann zurück, damit auch wir es sehen konnten. Drei unterschiedlich breite Kreise zogen sich um den mittleren Punkt des Kompass' herum, als hätte jemand mit einem Zirkel einen großen Kreis und dann drei weitere Innenkreise hinein gezeichnet. Der innere Ring war der größte. Auch er enthielt Bilder, aber sie waren so klein, dass ich sie aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte. In seiner Mitte befand sich der Träger des Zeigers - war es etwa ein Rubin? Der Zeiger selbst war von einem dunklen Schwarz und an seiner oberen Spitze war ein goldenes Z und unten ein V eingestanzt. Wie um einen Kontrast zu diesen Farben darzustellen, waren die Buchstaben in dem mittleren Kreis schwarz auf goldenem Grund. Sie erinnerten ein wenig an die Himmelsrichtungen, die man auf einem gewöhnlichem Kompass abliest. Nur dass diese Lettern in völlig unterschiedlichen Abständen angeordnet waren. Zwischen T und W war am allermeisten Abstand. Ungefähr die Hälfte des gesamten Kreises. Diese Hälfte war im äußersten Kreis in sechs genau gleichgroße Abschnitte geteilt, jeweils 61 kleine Striche pro Abschnitt. Sie stellten die 366 Tage des Jahres dar. Sogar an das Schaltjahr hatten die Schöpfer gedacht. T für Tage. Danach kamen 52 Striche zwischen W und M. W für Wochen. Als nächstes zeigte der Kompass von M und J 12 Geraden und hatte somit den kleinsten Abschnitt. M für Monate. Als letztes zählte ich genau 100 Striche zwischen J und T. J für Jahre.
Irgendwann brach Lia das Schweigen: "Und jetzt? Wir wollen doch nicht heute noch aufbrechen, oder?" Sie sah uns der Reihe nach an. Als ihr Blick auf mir ruhte, zuckte ich nur die Schultern. Ich wusste auch nicht, was als nächstes passieren würde oder was wir tun sollten. Aber heute noch aufzubrechen, wäre Schwachsinn. Es war schließlich schon später Nachmittag, obwohl es draußen wie Mitternacht aussah. Nevio sprach meine Gedanken laut aus: "Wäre dumm, heute noch loszulegen, weil es viel zu spät ist." Leyen nickte zustimmend. "Na, dann lasst wenigstens schon einmal die Sachen zusammenpacken, damit wir morgen früh los können." warf Ryan ein und deutete auf das Chaos in der kleinen Hütte. Klamotten lagen verstreut auf dem Boden, dazwischen Bücher, Stifte, Papier, Geschirr, Leyen's Werkzeuge und die Dinge, die er daraus gebaut hatte, ein altes Schachbrett das Nevio irgendwo aufgetrieben und gestern gegen Leyen, Lia und Ryan gespielt hatte (ich hatte lieber zugeschaut) und eine Menge Müll. Allein bei dem Gedanken daran all das wegräumen zu müssen, stöhnte ich. Aber Nevio wurde bei etwas anderem an Ryan's Satz hellhörig. "Sagtest du gerade: damit wir morgen früh los können?" Ryan bejahte verwundert und erst da fiel mir auf, worauf Nevio hinauswollte. Wir anderen tauschten einen Blick. Keiner schien sich wohl in seiner Haut zu fühlen. "Was ist denn?" fragte Ryan und sah uns an. Wir wanden uns. "Es ist so ... " begann Lia, aber als Ryan's fragender Blick auf ihr ruhte, versagte ihre Stimme. Leyen vollendete den Satz: "Dass Jaron uns verboten hat, dich mitzunehmen." Stille. Wir sahen den Eisjungen gequält an und warteten auf eine Reaktion. Ganz langsam, als würden die Worte ewig brauchen, um zu ihm durchzudringen, erlosch das Lächeln aus seinem Gesicht und verwandelte sich zuerst in eine verwirrte und dann so wütende Miene, dass ich ein Stück von ihm wegrutschte. "ER HAT WAS GESAGT?!" brüllte Ryan und wir zuckten alle zusammen. "Dass wir dich nicht mitnehmen dürfen." wiederholte ich kleinlaut. Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. "Er hat gesagt, dass ich, nach allem was ich getan habe, hierbleiben muss?!" Wir nickten, erleichtert darüber, dass Ryan nicht mehr brüllte und im nächsten Moment riss er die Tür auf und stürmte in den strömenden Regen. "Ryan!" riefen wir alle und sprangen auf. Lia und Nevio liefen nach draußen und bevor sie etwas sagten, hörten wir das Aufheulen des Motors und die quietschenden Reifen, als er mit seinem Auto davonfuhr. Leyen fluchte, als die beiden wieder hereinkamen und bestätigten, dass Ryan verschwunden war. Ich setzte mich frustriert wieder auf die Matratze, warf einen Blick auf den Kompass und schrie auf. "Was?" fragten die anderen entsetzt. "Er hat ihn mitgenommen! Ryan hat den Kompass mitgenommen!" erklärte ich entsetzt. Leyen, Nevio und Lia sprangen an meine Seite und zusammen durchsuchten wir das Zimmer, doch der Kompass war nirgends zu finden. Ryan hatte ihn tatsächlich mit sich genommen. Leyen fluchte wild vor sich hin, Lia und ich suchten immer noch, obwohl wir es eigentlich aufgegeben hatten und Nevio sah sich draußen im kalten Regen um; nach was auch immer. Dann kam er pitschnass wieder herein. "Ich weiß, wo er ist." sagte er und wir sahen ihn erstaunt an. "Wie das?" fragte Lia und der Erdjunge erklärte: "Es ist verdammt schwer und nervenaufreibend, aber ich kann für einen kurzen Moment spüren, wo er sich auf der Erde befindet. Das geht allerdings nur, wenn er wirklich den Boden berührt oder mit ihm durch etwas anderes in Kontakt ist - wie jetzt sein Auto. Außerdem darf er nicht allzu weit entfernt sein." Lia sah ihn an, als wäre er ein Gespenst. "Das kannst du?!" Ihre Stimme war unnormal hoch und zitterte. Ihr Gesicht war rot vor Aufregung. Bevor ich fragen konnte, was los war, rief Leyen dazwischen: "Wo ist er?" Nevio schloss die Augen und legte eine Hand draußen auf den nassen Boden. Wir warteten angespannt. "Er verfolgt eine Straße nach Vester Tørslev." Wieder einen Moment Stille. "Jetzt hält er bei einem Imbiss und kauft sich ein Sandwich mit Schinken, Käse und Salat ... Er ist wieder unterwegs und lässt das Fenster runter, weil seine Klimaanlage kaputt ist." "Das siehst du alles, wenn du die Erde antatschst?" fragte Leyen perplex. Nevio grinste schelmisch. "Nö. Eigentlich hab ich nur gesehen, dass er die Straße nach Vester Tørslev nimmt, den Rest hab ich mir ausgedacht. Gott Leute, man kann euch so leicht reinlegen." Wir stöhnten alle auf. "Also ist er unterwegs nach ... zu diesem Ort?" vergewisserte ich mich. Nevio nickte. Leyen stöhnte. "Ich geh sicher nicht zu Fuß bei dem Mistwetter und Fahrrad fahr ich auch nicht, zumal wir hier gar keins haben, glaub ich." "Dann gucken wir mal, ob uns jemand mitnimmt." warf Lia ein und wir zogen uns unsere Jacken über und traten hinaus in den Regen. Leyen betrachtete mich von der Seite. "Kannst du nicht irgendetwas machen, damit wir nicht nass werden?" Ich versuchte es, indem ich meine Hände mit den Handflächen nach oben zum Himmel streckte und so etwas wie einen imaginären Kreis über unseren Köpfen zog. Es funktionierte. Der Regen perlte über uns mitten in der Luft ab, als würde es auf eine unsichtbare Wand treffen. "Geht doch." sagte Leyen und ich meinte, ihn lächeln zu hören. Allerdings konnte ich das nicht mit Gewissheit sagen, denn es war zu dunkel, um überhaupt irgendetwas zu erkennen. Plötzlich leuchteten am Ende der Straße Scheinwerfer auf und für einen Moment waren wir geblendet, bis Lia rief: "Leyen, mach eine Flamme, damit er uns sieht!" Und ohne Widersprüche gehorchte der Feuerjunge und auf seiner Handfläche loderte ein kleines Feuer auf, dass Leyen in die Höhe hielt, damit der Fahrer uns sah. Nevio und Lia winkten wie wild; ich war damit beschäftigt, den Regenschutz stabil zu halten. Das Auto hielt vor uns und das Fenster wurde runtergelassen. Leyen ließ schnell das Feuer erlischen und ich die unsichtbare Wand ein wenig bröckeln, damit der Fahrer sich nicht wunderte, wie wir diesen Regen trocken überstanden. "Alles klar, Kinder?" fragte der Mann auf dänisch - Nevio hatte früher für ein paar Wochen Dänisch gelernt, es dann aber aus Zeitmangel aufgegeben und übersetzte die wenigen Worte für uns - und betrachtete uns einen nach dem anderen. Lia jammerte kläglich auf englisch, dass wir uns verlaufen hätten und nach Vester Tørslev zu unseren Großeltern müssten; sie würden sich schon Sorgen machen, wo wir blieben. Der Mann war großzügig und obwohl er in die komplett andere Richtung musste, drehte er um und fuhr uns in die kleine Stadt. Er drehte das Radio leiser und unterhielt sich mit Lia und Nevio. Leyen baute etwas aus kleinen Platten und ich starrte aus dem Fenster in die dunkle, kalte Nacht. Nach knapp 10 Minuten hielten wir an einem kleinen Wäldchen. Wir bedankten uns, stiegen aus dem Auto und winkten zum Abschied, als das Auto davonfuhr. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, aber ich konnte immer noch kaum die Hand vor Augen sehen. Leyen entzündete eine Flamme auf seiner Handfläche und als das kaum etwas half, erweiterte er das Feuer auf seine Haare und seine zweite Hand. Ich konnte meinen Blick kaum von ihm reißen; der Anblick war einfach zu faszinierend. Er sah mich an und ich war mehr als erstaunt, als sein Blick nicht feindselig sondern belustigt war. "Jetzt kommt schon!" rief Nevio und wir drei folgten ihm in den Wald hinein. "Ähm ... in den Wald? Mitten in der Nacht?" fragte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. "Hat da jemand Angst?" neckte mich Leyen und schon war er wieder ganz der Alte. Ich antwortete nicht und versuchte, nicht auf die langen Schatten, die Leyen's Feuer warf, zu achten, sondern nur auf Nevio, der so schnell ging, dass wir kaum Schritt halten konnten. Jedes Knacken, jedes Knarren, jeder Windhauch ließ mich zusammenzucken. Ich hatte schon immer panische Angst vor der Dunkelheit gehabt. Ganz ruhig, Thalia, ganz ruhig. Wir holen nur schnell Ryan und den Kompass und sind dann auch gleich wieder weg. Ich versuchte mir in Gedanken Mut zu machen, aber es war wie es war: ich hatte Angst. Und wie. Lia's Gesicht war so ausdruckslos wie fast immer in letzter Zeit, aber sie sah meine panischen Blicke, die ich immer wieder zu den Bäumen warf und trat neben mich. Sie nahm meine Hand und sagte leise: "Es ist alles gut. Leyen macht uns doch Licht, keiner kann uns etwas anhaben. Hörst du das Knarren? Das macht nur der Wind. Hast du gerade gehört, wie ein Zweig zerbrochen ist? Das war Nevio. Der macht manchmal ganz schön Lärm, weißt du? Pass auf, ich erzähl dir was: vor drei Jahren haben wir mit den Lichtern einen Ausflug in ein Tierschutzgebiet gemacht ... "Und sie erzählte, wie aufgeregt alle gewesen waren, als ein ganz seltener Vogel auf einem Baum gesessen und sie angesehen hatte und alle ganz leise gewesen waren, um ihn nicht zu erschrecken und wie Nevio dann plötzlich angerannt kam und sein Wanderrucksack laut gescheppert und er aus vollem Hals "Bin wieder da!" gerufen hatte, der Vogel davongeflogen war und alle wütend über den Erdjungen geschimpft hatten. Die Geschichte entlockte mir ein leichtes Lächeln, auch wenn Lia's Stimme ununterbrochen leblos geklungen hatte. Da war keine Freude, kein Lächeln an eine schöne Erinnerung. Ihre Stimme war leer und trostlos, wie eine alte Maschine, die schon lange Zeit nicht mehr benutzt war und nun staubbedeckt und vermodert irgendwo allein stand und darauf wartete, dass jemand zu ihr kam und sie wieder reparierte und benutzte. Und gerade als ich Mut fasste und den Mund öffnete, um sie nach dem Grund dafür zu fragen, blieb Nevio vor uns abrupt stehen und bedeutete uns still zu sein. Wir standen an der Grenze des Waldes und sahen auf Vester Tørslev hinab. "Er ist hier ... in der Nähe." flüsterte Nevio so leise, dass ich ihn kaum verstand. Wir nickten und traten alle genau in dem Moment aus dem Wald, in dem sie angriffen. Es waren fünf Personen, so viel konnte ich in dem Chaos erkennen. Ob männlich oder weiblich, wusste ich nicht. Sie waren allesamt stark und schnell und hatten uns aufgelauert, so viel war klar. Zwei stürzten sich auf Leyen, aber er schien damit klarzukommen. Er zog blitzschnell eine längliche Box aus seinem Werkzeuggürtel, drückte auf einen Knopf und aus der Box wurde ein tödlich aussehendes Schwert, mit dem Leyen sich gegen seine Angreifer verteidigte. Nevio prügelte sich auf dem Boden mit jemandem, ihre Fäuste krachten und mir wurde übel, als ich das Knacken eines Knochens hörte. Lia stand einem Menschen gegenüber, der fast zwei Köpfe größer als sie war und sie, mit einem Säbel in der Hand, brutal angrinste. Sie selbst zog ein Messer und ging auf ihn los. Das traurige, leblose Mädchen von eben war vergessen und an ihre Stelle trat jemand, der seit fünf Jahren Unterricht im Kämpfen und Verteidigen nahm und sehr wohl wusste, wie man mit einem kleinen Dolch einen gewaltigen Schaden anrichten konnte. Ich stand wie angewurzelt da, außerstande mich zu bewegen und meinen Freunden zu helfen. Meine Hände zitterten, als ich ebenfalls einen Dolch aus der Tasche zog. Ich konnte damit nicht annähernd so gut umgehen wie Lia - genau genommen war ich froh, wenn ich ihn ruhig in meinen Händen halten konnte und ihn nicht plötzlich losließ -, aber es war besser als nichts. Dann entdeckte mich auch der letzte Angreifer und kam auf mich zu, während ich immer weiter zurückwich. Ein Lächeln stahl sich auf sein großes Gesicht, als er meine Angst sah. Mandelförmige braune Augen, viel zu große Nase, Narbe über der linken Augenbraue. Schnell versuchte ich mir sein Gesicht einzuprägen, während ich einen Fuß hinter den anderen setzte und langsam rückwärts zurück in den Wald stolperte. Mein Gegenüber kam lächelnd hinter mir her und zog langsam ein langes Schwert aus der Scheide. Sein Lächeln war grausam, gewalttätig und selbstbewusst. Er wusste, dass er überlegen war. Dass ich keine Chance hatte. Ich war nicht für's Kämpfen gemacht worden. Ich konnte es nicht so wie meine Freunde. Ich hatte keine langjährige Ausbildung hinter mir. Ich war in einem Heim aufgewachsen, an dem ein gewaltfreies Miteinander an erster Ordnung stand. Plötzlich fragte ich mich, wo Leyen so gut kämpfen gelernt hatte. Der fremde Junge kam näher. Immer näher. Mein Herz raste, ich zitterte. Er warf sein Schwert einmal in die Luft, es drehte sich rasend schnell und er fing es leichtfertig am Griff wieder auf. Ich zuckte zusammen. Mit einem schnellen Sirren ließ er die tödliche Waffe auf mich niedersausen und ... sie wurde mitten in der Luft gestoppt. Von einem anderen Schwert, das plötzlich aus den Bäumen hinter mir aufgetaucht war. Ich drehte mich entsetzt um und sah mich Ryan gegenüber. "Ich halt hier mal die Stellung, okay?" fragte er und ich konnte kaum schnell genug nicken und zur Seite treten. Ryan griff den überraschten Jungen an und ich sah sofort, dass Ryan das komplette Gegenteil von mir war. Er schien für das Kämpfen geschaffen zu sein. In blitzschnellen Bewegungen parierte er die Schläge des fremden Angreifers, wich aus, drehte sich, sprang in die Luft und benutzte sein Schwert so flink und geschmeidig, dass ich es kaum erkannte. Alles geschah so rasend schnell hintereinander weg, dass mir schwindlig wurde und ich den Blick abwenden musste. Leyen hatte einen der beiden Menschen, die ihn angegriffen hatten, K.O. geschlagen und vermöbelte gerade den zweiten, Nevio war mit seinem Gegner ebenbürtig, keiner gewann und sie schlugen einfach immer weiter aufeinander ein. Lia kniete keuchend auf dem Boden, ein bewusstloser großer Junge vor ihr. Ich drehte mich in dem Moment um, als Ryan den Fremden entwaffnete, dieser fluchte und rennend im Wald verschwand. Lia und Leyen halfen Nevio und dessen Widersacher humpelte ebenfalls in den Wald. "Na los, folgt mir." sagte Ryan mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete. Auf den Gesichtern der anderen sah ich die Gefühle, die auch in mir tobten: Verwirrung, Furcht, Erschöpfung, Fassungslosigkeit, aber vor allem Wut. Leyen stapfte hinter Ryan her, als würde er ihm gleich den Kopf abreißen wollen. Wir folgten Ryan zu seinem Auto und stiegen ein. Der Eisjunge fuhr langsam. Dann brach Leyen das Schweigen: "Was bitte war denn das für 'ne Show? Erst haust du einfach ab, dann werden wir - warum auch immer - von irgendwelchen fremden Leuten angegriffen und dann bist du plötzlich wieder da!" Er schnaubte. Ryan starrte zur Windschutzscheibe hinaus. "Wirklich, ich wusste nichts von dem Angriff. Ich schwör's euch! Ich kannte nicht einen von den Typen und habe keine Ahnung, was sie von euch wollten. Vielleicht haben die Wind gekriegt und sind scharf auf den Kompass." "Den du ja hast." warf Nevio ein. Ryan nickte. "Ja, den ich habe. Aber stellt euch mal vor, einer von euch hätte den mit sich rumgeschleppt. Dann wärt ihr den jetzt los gewesen." Keiner sagte etwas, bis ich fragte: "Was wolltest du überhaupt in dieser Stadt?" Alle sahen Ryan an. "Ich habe nach Hinweisen gesucht. In Vester Tørslev gibt es Runensteine in der Kirche und mir wurde gesagt, dass auf einem davon eine Anleitung steht, wie man den Kompass bedient." Alle Wut war aus Leyen's Stimme gewichen, als er sagte: "Aber das sind Runen! Die kannst du doch nicht lesen!" Ryan lächelte. "Ein wenig. Es wurde mir mal beigebracht. Sehr weit her." Sein Blick verlor sich. Lia hakte nach: "Und? Hast du was herausgefunden?" Ryan nickte. "Ich weiß jetzt, was wir tun müssen." "Und was?" fragte Nevio aufgeregt. Ryan trat plötzlich mitten auf der Straße auf die Bremse. "Ich werde es euch sagen. Unter einer Bedingung." "Und die wäre?" Wir sahen ihn alle an. Doch ich wusste die Antwort schon, tief in meinem Innern, bevor er sie aussprach. "Ihr müsst mich mitnehmen." Stille. Keiner sagte etwas. "Das ist meine Bedingung. Ich möchte mit euch kommen." "Das geht nicht, Ryan." sagte Lia leise. "Jaron hat es uns verboten. Er meinte, dass es nicht gut für dich wäre." Ryan schnaubte wütend. "Mir wurde schon so vieles verboten, ich habe es satt! Ich will nicht immer nach der Pfeife anderer tanzen, sondern eigene Entscheidungen treffen, mein Leben leben so wie ich es will und nicht nach dem Plan, den andere für mich schreiben. Ich möchte nicht hier sitzen und darauf warten, dass etwas passiert, wenn ihr sonst was tut. Ihr braucht mich, das wisst ihr und ich brauche euch und dieses Abenteuer." "Gut gesprochen." sagte Leyen. "Wisst ihr was? Mir waren die Meinungen anderer eh schon immer egal. Ich sage, Ryan kommt mit!" Lia warf ein: "Aber Jaron ...", doch Leyen unterbrach sie. "Vergiss Jaron. Jetzt machen wir mal das, was wir wollen!" Wir sahen wieder zu Ryan, als der sagte: "Bitte, Leute." Und dann fragte Leyen: "Wer ist dafür?" und wir hoben alle einstimmig die Hände, wenn auch etwas zögernd.

Wir saßen draußen in Ryan's Auto. Ryan hatte uns gestern den gesamten Plan erklärt, den Jaron vorgesehen hatte: Wir würden in die Zukunft reisen, zwei Monate um genau zu sein, und schauen, wie die Welt dort aussah. Dann suchten wir dort nach dem Ursprung all des Chaos' und vernichteten es, wenn möglich. Sollte das nicht hinhauen, reisten wir in die Vergangenheit und versuchten die ganze Sache von vorn. Die aufgehende Sonne warf ihre Strahlen durch die Windschutzscheibe und leuchtete in unsere aufgeregten Gesichter. Unsere gepackten Rucksäcke hielten wir fest umklammert in unseren Armen. Ryan fragte: "Bereit?" und wir nickten und fassten uns alle bei den Händen. Die Situation war vor allem Leyen und mir unangenehm, aber ich hielt trotzdem seine und Lia's Hand so fest umklammert, als wären sie alles was mir blieb. Wie ein Anker. Ihre Hände, ihre Nähe waren ein Anker in dieser Zeit. Einer Zeit, die ich gleich zurückließ und vielleicht nie wieder sehen würde. Hör auf, so zu denken! Ich presste meinen Rucksack zwischen meine Knie und hielt Leyen's und Lia's Hand so fest wie möglich, doch beide sagten nichts. Ich sah aus dem Fenster auf die (noch) friedliche Welt und versuchte, alles mit meinen Blicken aufzunehmen und zu speichern. Ich wollte diese Welt nicht vergessen. Ich durfte es nicht. Und dann drehte Ryan an dem Kompass, sagte Worte, die so alt waren, dass ich sie nicht verstand und plötzlich wurde die Welt schwarz und ich hörte nur meinen eigenen und die Schreie der anderen, als die Schmerzen uns die Sinne raubten.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt