Kapitel 7

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Ein nie enden wollender Gang erstreckte sich vor mir. Die Decke war mindestens zwanzig Meter über mir und ich verrenkte mir fast den Hals, als ich versuchte die vielen Bilder zu erkennen, die dort aufgemalt waren. Die meisten stellten Schlachten und Kriege da, doch die Kämpfer waren nur Jugendliche. Sie hatten weder Waffen noch Rüstungen und doch schienen sie alle stark verletzt zu sein. Wunden an Armen, Köpfen, Rücken ließen mich angeekelt das Gesicht verziehen. Denn die Bilder wirkten so lebensecht, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Sie schienen sich zu bewegen, wie die Flamme auf Nevios T-Shirt. Wirbelstürme, Fluten, Brände und Schneegestöber tobten um die Kämpfer herum, doch das schien sie nicht sonderlich zu stören. Über ihren Köpfen zuckten grelle Blitze über den blutroten Himmel. Ich fragte mich, wer auf die Idee gekommen war, den Himmel rot und nicht schwarz oder blau zu malen. Die Kämpfenden hielten die ungewöhnlichsten Sachen in ihren Händen. Statt einem Schwert, einer Axt oder einer anderen Waffe, die man früher bei Schlachten genutzt hatte, trugen die Kinder seltsame Dinge, die ich erst bei genauerem Hinschauen erkennen konnte, bei sich. Statt Haaren schienen ihnen Flammen über die Kopfhaut zu tanzen. Tornados, klein wie Tennisbälle drehten ihre Spiralen auf ihren Handflächen, Blitze umgaben ihre geschädigten Körper. Pflanzen kletterten mit ihren Wurzeln die Beine hinauf. Ich fragte mich, wie die Jungen und Mädchen sich damit etwas antun wollten. Ich löste meinen Blick von der Decke und sah mir den Gang an. Die rechte Wand bestand, wie in dem Lichterzimmer, aus Glas und offenbarte Sicht auf einen riesigen Hof. Jugendliche saßen auf Bänken, unterhielten sich, lachten, spielten Basketball und Fußball, verprügelten sich gegenseitig oder standen einfach nur in der Gegend rum. Eine große Menge an Bäumen stand in der einen Ecke des Hofes, als könnte sie einen Wald ersetzen. Ich war nicht oft in Wäldern gewesen, doch ich hatte sie auf Bildern und Heimausflügen gesehen und mich unsterblich in sie verliebt. Diese Ruhe, das Zwitschern der Vögel, das Rauschen der Baumkronen, ich liebte es. Sonnenstrahlen tanzten über die Gesichter der Jugendlichen. Als ich diese Szene beobachtete, schien die Welt stillzustehen. Die Zeit sich zu verlangsamen. Das glückliche Lächeln auf den Gesichtern schien immer zu währen. Das fröhliche Lachen eines Jungen, der einem Freund hinterherjagte. Der Jubel der ausbrach, als ein Mädchen den Fußball am Torwart vorbei, ins Tor bugsierte. Die Sonne die durch das Fenster schien. Und das erste Mal in meinem Leben spürte ich ein anderes Gefühl als Wut, Trauer und Verzweiflung. Es war Hoffnung. Hoffnung auf ein besseres Leben. Ich hatte noch nicht viel dieses wunderbaren Ortes gesehen, doch ich hatte mich jetzt schon darin verliebt. Dies war das Leben von dem ich immer geträumt hatte! Jugendliche, Freunde um einen herum, die mit einem Schabernack trieben, lachten, etwas unternahmen. "Gefällt's dir?" Ich erwachte aus meiner Trance. Der Junge hatte seinen Freund jetzt eingeholt und nahm ihn grinsend in den Schwitzkasten. Die Fußballmannchaft hatte ein neues Spiel begonnen. Ich hätte Nevio dafür erwürgen können, dass er diesen Moment zerstört hatte, aber ich hätte ja sowieso nicht ewig am Fenster stehen und auf den Hof starren können. "Gefallen?! Ich liebe es! Wie lange bleibe ich hier?" antwortete ich. Ein fröhliches Grinsen ließ seine Grübchen in den Wangen noch mehr hervortreten. Ich hatte das Gefühl, dem glücklichsten Menschen dem ich je begegnet war, gegenüberzustehen. Ich versuchte mir Nevio traurig oder wütend vorzustellen. Doch dieses Bild sah so absurd aus, dass ich fast losgeprustet hätte. "Was ist?" fragte er. Ich schüttelte nur grinsend den Kopf. Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubender Lärm die Stille auf dem Gang. Es war eine kurze Melodie. Wie ein winziger Ausschnitt aus einem Lied. Ich hörte eine Gitarre, ein Schlagzeug und eine Geige heraus. "Was ist das?" rief ich Nevio über die Musik hinweg zu. Er packte mich am Arm und zog mich näher zu der Glaswand heran. "Was soll das? Lass mich los!" zischte ich, doch der Junge verstärkte seinen Griff und sagte:" Ich versuche dir dein Leben zu retten." Ich starrte ihm verwirrt in die wundervollen Augen. Er lachte. "Du wirst es gleich sehen." Und wie auf Kommando sprangen sämtliche Türen am Gang auf und spuckten Kinder aus. Es mussten ungefähr 150 Jugendliche sein, denn plötzlich war der vorher so leere Gang gefüllt mit Menschen, dem Geräusch hunderten von Füßen, die ungleichmäßig über einen glatten Boden liefen und lauten Stimmen. Überall waren Menschen. Doch wie viele Gesichter ich auch sah, es war nicht eines älter als 20. Hätte Nevio mich nicht an die Seite gezogen, wäre ich wahrscheinlich zertrampelt worden. Sie alle trugen diesen Einheitslook. Schwarzes T-Shirt, schwarze Hose oder die Mädchen wie ich einen Rock und rote Sneakers. Alle hatten sie dieses Zeichen auf ihren T-Shirts. Die Flamme die mir auch bei Nevio aufgefallen war. Ich versprach mir, ihn später zu fragen, was es damit auf sich hatte. Erst einmal wollte ich hier weg. Ich wurde gegen die Scheibe gedrückt, angerempelt und geschupst. Verzweifelt bohrte ich meine Finger in Nevios Arm. Er zuckte, biss aber nur die Zähne zusammen und fragte:" Möchtest du hier weg?" Ich nickte. Er löste meine Finger aus seiner Haut und schloss seine Hand um meine. Dort wo ich mich festgekrallt hatte, war seine Haut dunkelrot. "Tut mir leid." sagte ich, aber Nevio winkte ab. "Nicht der Rede wert. Also wenn du nicht plattgetreten werden möchtest, lass mich nicht los und folge mir einfach, verstanden?" Ich murmelte zustimmend und der Junge trat mit mir in die Massen. Es war wie bei einem Strudel. Man wurde mitgezogen und konnte sich nicht wehren. Wir wurden zu dem anderen Ende des Ganges gezogen. Als ich meinen Kopf drehte, um die Flügeltür zum Lichterzimmer noch einmal zu betrachten, die hinter hunderten von Köpfen verschwand, stießen mir die Kinder hinter mir ihre Fäuste in den Rücken. "Bleib doch nicht stehen, Mädel!" "Bewegung da vorne!" "Beweg dich, verdammt nochmal!" sagten sie genervt. Nevio zog mich weiter. "Warum sind die hier so fies?" fragte ich ihn. Ich musste meine Stimme heben, damit er mich über den Lärm hinweg hören konnte. Nevios Gesicht wurde ernst. Es sah seltsam aus. Ernsthaftigkeit passte einfach nicht zu ihm. "Wir sind eine Einheit, Neuling. Wir sind wie eine einzelne Maschine. Was passiert, wenn du bei einer Maschine ein winziges Teil entfernst? Eine einzige Schraube oder ein Rädchen?" Er sah mich fragend an. "Sie geht kaputt, aber..." "Genau! Sie geht kaputt! So ist es bei uns auch. Jeder von uns ist ein winziges Teilchen. Doch egal wie klein und unbedeutend du scheinst, bei uns hat jeder seinen Platz. Wenn du hier klarkommen willst, musst du das machen, was die anderen machen.
Du darfst hier nicht an dich denken, sondern an die anderen. Wenn du irgendetwas anderes machst als der Rest, kommst du hier nicht klar. Wir sind eine riesige Familie. Keiner ist besser oder schlechter als der andere. Merk dir das, ja?" Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ich das doch gar nicht gesagt hatte, als sich wieder ein Lächeln auf Nevios Lippen schlich. "Wollt ich nur mal gesagt haben. Vergiss es aber trotzdem nicht. Und jetzt komm. Es gibt Mittag. Wenn es eins auf dieser Welt gibt, dass du lieben musst, dann das Essen hier. Es ist göttlich!" Die Kinder drängten sich alle vor die Tür am anderen Gangende. Rechts von der Tür war ein weiterer Gang. Auch aus ihm strömten Jugendliche. Es war wie zwei Nebenflüsse, die aufeinandertrafen. Alle drängten sie sich vor die große Tür.
Ein atemberaubender Duft ging von dem Raum dahinter aus. Der Geruch von Fleisch, Kartoffeln, Gemüse, Früchten und anderem leckeren Essen betörten meine Sinne. Und ich hatte das Gefühl ein Zuhause gefunden zu haben. Ein richtiges Zuhause.

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt