Ich hatte mich mit Leyen abgewechselt und saß jetzt vorn auf dem Beifahrersitz. Während Ryan das Auto steuerte und die Umgebung betrachtete, erklärte er mir die Funktion und die Betätigung der Kupplung, zählte die verschiedenen Pedalen auf und welche zu was gut war, ließ mich den Scheibenwischer, das Blinklicht und andere Schalter betätigen und fragte mich dann ab. Wir versuchten uns die Zeit zu vertreiben. Denn, so schwer das auch zu glauben war, auch wenn alle Lebewesen die wir liebten und kannten und auch wenn die Lebewesen die wir nicht kannten oder nicht mochten, verschwunden waren, wir auf der Suche waren, nach etwas von dem wir keine Ahnung hatten, was es sein könnte und wir die ganze Zeit dieses schmerzliche Gefühl der Trauer, der Wut und der Angst in unserem Magen spürten, ja, selbst dann konnten wir uns langweilen. Und wie wir uns langweilten. Seit fünf Tagen fuhren wir nun schon durch die öde Landschaft, über zerstörte Straßen, sahen uns um, suchten verzweifelt nach Antworten, aßen und schliefen im Wagen, den wir wegen des Zeitmangels sowieso selten verließen. Wir wechselten uns ab mit Fahren und die die nicht fuhren oder auf dem Beifahrersitz saßen, versuchten sich so gut es ging hinten zu beschäftigen. Das Wetter war ein einziges Chaos. Mal schien die Sonne, im nächsten Moment regnete es, als würde der Himmel die Erde in Sturzbächen beerdigen wollen, dann stürmte und blitzte es und plötzlich strahlte wieder die Sonne herab. Einmal hatte es sogar geschneit. Lia, Nevio und Leyen hatten sich jetzt auf der hinteren Bank und im Kofferraum ausgebreitet und taten sonst was. Ich war zu faul, um mich umzudrehen und nachzusehen, was sie machten. Denn die Sonne knallte von einem grauen Himmel auf uns herab und kochte uns in dem schwarzen Geländewagen. Ja, von einem grauen Himmel. Es sah aus, als wäre ein Regenschauer oder sogar ein Gewitter in Sicht, aber der Himmel hatte sich seit vier Stunden nicht geändert. Strahlender, brennender Sonnenschein. Ryan rann der Schweiß von der Stirn und ich hatte einen leichten Sonnenbrand auf der Nase. Ich hätte mich jederzeit nach hinten zu den anderen setzen können, um der Sonne nicht ausgeliefert zu sein, aber die Wahrheit war: ich hatte Mitleid mit Ryan. Er tat mir leid, so allein vorne im Auto. Zumal ich Angst hatte, dass er es nicht allein aushielt, da er ja seine Fähigkeiten raus gefunden hatte, als er in einem Auto fest saß. Lia hatte vorgeschlagen, dass Ryan das Auto für einen kurzen Augenblick in einen Kühlschrank verwandeln und es kälter werden lassen könnte, aber Leyen hatte laut protestiert, dass Feuer sich nicht gut mit Eis verträgt und Nevio meinte, er sei die Kälte nicht gewohnt. Also saßen wir weiter in diesem Auto und brutzelten vor uns hin. Wir fuhren durch irgendeine Stadt - ich hatte schon längst die Orientierung verloren - als Nevio plötzlich "Stopp!" rief und Ryan sofort auf die Bremse trat. Es verwunderte mich schon wieder; Ryan hatte nicht vor Schreck sofort angehalten. Er hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als Nevio von hinten gerufen hatte; im Gegensatz zu mir. Er hatte nur reagiert. Der Junge war echt überhaupt nicht schreckhaft. "Was ist?" fragte er jetzt und drehte sich zu dem Erdjungen um. Der drückte sein Gesicht an die Scheibe und betrachtete mit großen Augen etwas, dass auf der anderen Straßenseite war. Mein Herz schlug schnell und ich versuchte zu erkennen, was er sah. Aber ich sah nur zerfallene Häuser. Leyen und Lia hatten sich auch umgewandt und suchten nach der Ursache für Nevio's Ausbruch. "Dahinten ist ein Eisladen!" erklärte Nevio aufgeregt und deutete aus dem Fenster. Wir stöhnten alle auf. "Neyo, selbst wenn da ein Eisladen ist, ist er vermutlich völlig zerstört." meinte Lia. Doch natürlich gab Nevio die Hoffnung nicht auf. "Ist doch egal! Vielleicht ist die Kühltruhe aus unzerstörbarem Titan und das Eis wurde in Labors auf Unschmelzbarkeit getestet und ... " "Du liest zu viel Science Fiction." unterbrach Leyen Nevio's wüste Vorstellungen. "Lesen bildet. Aber das ist ja schwer einzuschätzen für einen Menschen, der das Wort Buch noch nicht einmal buchstabieren kann." konterte Nevio. "Kommt schon, lasst uns wenigstens mal nachgucken." bettelte er. Ich seufzte. "Neyo, so leid mir das tut, aber ich glaube, ich muss Leyen recht geben. Wir werden da nichts finden. Am allerwenigsten Eis." Nevio zog einen Schmollmund. "Bitte, bitte, bitte?" fragte er mit seiner süßesten Stimme und wir lachten. "Ach, was soll schon dabei sein?" warf Ryan ein und fuhr - unter den Jubelschreien Nevio's - an den Straßenrand. Kaum hatten wir gehalten, riss der Erdjunge die Autotür auf und war in dem kleinen Laden verschwunden. Wir folgten ihm. Es stellte sich heraus, dass es nicht nur ein Eisgeschäft sondern sogar ein kleiner Supermarkt war. Allerdings waren die meisten Regale leergeräumt, der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Wir fanden Nevio in einer Tiefkühltruhe. Er steckte mit dem Kopf und dem Oberkörper in der Kiste, seine Beine baumelte hilflos in der Luft. "Hülfe." nuschelte er und Ryan zog ihn lachend zurück auf den Boden. "Na, hast du was du wolltest?" fragte er. Nevio zog triumphierend ein zermatschtes Eis aus der Tiefkühltruhe. "Jup." meinte er und steckte es sich in den Mund. Angewidert wandten wir uns ab. Lia fand ein Buch und einen noch etwas durchnässten Atlas und steckte beides in ihren Rucksack. Leyen stand gelangweilt in der Tür und sah mir dabei zu, wie ich auf einen Hocker kletterte und begann die oberen Regalreihen nach Essbarem zu untersuchen, das noch ein paar Wochen haltbar war. Ich warf ihm alles zu. Unter anderem elf Dosen Cola, mehrere Saftflaschen, tütenweise Kekse und Cracker, Riegel und eine Stange Mentos. "Zum Glück sieht uns hier keiner." warf Nevio mit vollem Mund ein. Ich lächelte und zuckte erschrocken zusammen, als Leyen plötzlich einen überraschten Laut ausstieß. "Sehen! Natürlich! Neyo, du bist ein ... ach egal." Leyen ließ die Süßigkeiten in seinen Rucksack fallen und rannte dann zur Kasse. "Na toll, jetzt will er das Geld klauen." murmelte Nevio, lächelte aber wie ein kleines Kind, weil Leyen seinen Spitznamen benutzt hatte. Dieser Junge war so leicht glücklich zu machen. Doch der Feuerjunge schien es gar nicht auf die Einnahmen abgesehen zu haben. Er machte sich an dem kleinen Computer zu schaffen und verschwand schließlich unter dem Tisch, um irgendwelche Drähte auseinanderzunehmen und zusammenzusetzen. Wir hörten nur gemurmelte Worte wie "Wo ... Daten?", "Welches Überwachungssystem?", "Videodaten-Aufzeichnung auf eine Festplatte?" "Festplatte. Festplatte! Wo ... YES!" Er sprang wieder hinter dem Tisch hervor und stieß sich dabei den Kopf an einem kleinen Schränkchen hinter ihm. Aber das schien ihn gar nicht zu interessieren. Er hatte nur Augen für das schwarze, quadratische Ding in seiner Hand, das er mit schnellen Handgriffen an den Computer anschloss. "Du, ich möchte ja nicht neugierig sein, aber eigentlich bin ich immer neugierig. Könntest du mir deshalb bitte meine unzähmbare Neugier stillen, indem du mir verrätst, was du da tust, boy?" fragte Nevio und betrachtete Leyen mit schräg gelegtem Kopf. "Psch, pscht!" zischte dieser und seine Finger flogen so schnell über die Tastatur, wie ich gar nicht gucken konnte. Nevio schaffte es ganze zwanzig Sekunden, dann konnte er nicht mehr stillhalten. "Also, wenn ... " "Halt die Klappe, verdammt." zischte der Feuerjunge. Nevio zog sich schmollend in den Süßigkeiten-Bereich zurück und stopfte sich so viel ungesundes Zeug in den Mund, dass ich mir fast Sorgen um seine makellosen Zähne machte. Wir anderen betrachteten schweigend Leyen. Nach nicht einmal einer Minute rief Leyen: "Bingo!". Nevio kam angelaufen und wir vier stellten uns hinter den Feuerjungen, um ihm über die Schulter zu schauen. Auf dem Bildschirm waren Videoaufnahmen zu sehen. Vier Videos aus verschiedenen Perspektiven des Ladens. Nur dass dieser auf den Filmen noch völlig intakt und aufgeräumt war. Außerdem war er sehr gut besucht. Unter den Videos stand: 12. 05. 2021, 17:06 Uhr. Leyen spulte die Aufnahmen vor, bis plötzlich die Tür im Bild aufgesprengt wurde. Er hielt an und wir betrachteten, wie die Käufer und Angestellten schreiend hin und her und ineinander liefen, wie sie ihre Einkäufe fallen ließen und durch den Hinterausgang flüchteten, als durch die Tür literweise Wasser sprudelte und die Regale umwarf und als es draußen eine weitere Explosionen gab. "Wow." hauchte Nevio, wir anderen sagten lange Zeit nichts. Dann fuhr Leyen den Computer runter und meinte: "Okay. Jetzt wissen wir wenigstens wann das Chaos losging." "Vor knapp zwei Wochen." warf Lia ein und deutete auf einen fast unleserlichen Kalender an der Wand. "Am 22. 03 hat Jaron uns los geschickt. Zwei Monate in die Zukunft." Wir nickten. "Und das ist unser sechster Tag hier." fuhr Lia ihren Gedankengang fort. "Heute ist demnach der 27. 05." "Absolute Wahnsinnsleistung." meinte Leyen sarkastisch. "Aber hilft uns das in irgendeiner Weise weiter?" Lia runzelte die Stirn. "Nein, du Genie, aber ich wollte einfach nur ein wenig nachdenken, um endlich mal den Kopf freizubekommen." "Als wenn du irgendwelche Probleme hast, Prinzessin! Was ist los? Ist dein Krönchen verrutscht? Ist dir die Luft zu staubig oder die Straße zu schmutzig? Tu nicht so, als wüsstest du was Probleme sind!" rief Leyen und seine Stimme wurde zum Ende des Satzes lauter. "Du hast ja keine Ahnung!" schrie Lia, den Tränen nahe. Leyen schnaubte. "Ach nein? Was ist los? Hat dein stinkreicher Vater vergessen dir deine tausend Euro Taschengeld der Woche zu überweisen? Hat er die Pediküre nicht bezahlt?" "Sei still, Leyen!" schrie Lia. Ein Windstoß fuhr durch unsere Kleider. "Warum? Geht's der Prinzessin nicht gut? Kommt sie nicht einen Tag ohne ihren süßen Bruder aus? Willst du zu Mummy und Daddy, Hoheit?" Leyen zog eine Grimasse, Flammen tanzten in seinen Augen. "Du sollst still sein, habe ich gesagt!" Lia rannen die Tränen über die Wangen, die Wimperntusche war verschmiert. Die Luft wirbelte durch ihre Haare, zerzauste sie. "Oh, wird da jemand wütend?" fragte Leyen höhnisch. Lia stieß einen Schrei aus und riss ihre Hand in einer schnellen Bewegung nach vorne. Leyen wurde gegen die Wand geschleudert und stieß sich den Kopf an dem Wandschrank. Er grinste höhnisch und trat einen Schritt vor. "Das war aber nicht besonders geziemt, Prinzessin." "Ich hasse dich!" rief Lia mit tränenerstickter Stimme und rannte aus dem Laden zum Wagen zurück. Ich warf Leyen einen wütenden und entsetzten Blick zu. Was hatte er sich dabei gedacht? Dann lief ich meiner Freundin hinterher, Nevio folgte mir auf dem Fuße. Er und Lia kannten sich schon seit Jahren, waren praktisch miteinander aufgewachsen. Er war immer da, wenn es ihr schlecht ging, genau so wie sie immer für ihn da war. Für einen kurzen Moment stach mir der Neid ins Herz. Ich hatte niemanden. Keine Familie. Jetzt suhle dich nicht in Selbstmitleid! Du hast doch Lia, Amelie, Matilda, Chloe, Isabelle und Elsie. Und Nevio und vielleicht auch noch Levi und Ryan. Obwohl ich Lia's Zwilling lange nicht gesehen hatte. Wir fanden Lia auf dem Asphalt hinter dem Wagen sitzend vor, das Gesicht in die Hände gestützt. "Hey Lie, alles in Ordnung?" fragte Nevio. "Sieht das so aus?" fragte diese schluchzend zurück. "Naja, nicht so ganz. Du kannst von Glück sagen, dass wir hier keinen Spiegel haben. Würdest du dein Gesicht sehen, würdest du ganz sicher einen Anfall kriegen." Der Erdjunge versuchte es mit Humor, doch Lia war gar nicht nach Scherzen zumute. Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und sie lehnte ihren Kopf an mich. "Was mache ich bloß falsch, Thal? Was mache ich bloß falsch?" flüsterte sie. Ich wusste nicht, was sie meinte und wollte nachhaken, aber Nevio warf ein: "Ach, Liechen, so schlimm wird's schon nicht sein. Jeder hat mal einen schlechten Tag." Das brachte das Fass zum Überlaufen. Lia sprang brüllend auf, machte eine Handbewegung und Nevio flog fünf Meter in die Höhe, drehte sich mehrmals um sich selbst und fiel dann in raschem Tempo auf die Straße zu. Ich schlug die Hand vor den Mund, war aber unfähig mich zu bewegen. Der Erdjunge schaffte es gerade noch einen kleinen Baum aus dem Boden schießen zu lassen, der seine Landung etwas abbremste, doch trotzdem krachte und knackte es, als irgendetwas in Nevio's Körper brach. Er schnappte nach Luft und rollte sich auf die Straße. Seine Brust hob und senkte sich unregelmäßig und sein Gesicht war vor Schmerzen verzogen. Lia neben mir holte erschrocken Luft und rannte zu ihm, ich folgte ihr. Ryan und Leyen stießen ebenfalls dazu. Nevio rollte sich auf den Rücken und stöhnte. "Oh Gott, Neyo. Es ... es tut mir so ... " versuchte Lia sich mit tränenerstickter Stimme zu entschuldigen, doch Nevio atmete rasselnd ein und brachte heraus: "Alles ... gut. Geht ... mr ... bestns." Ich rannte zum Auto, holte den Erste-Hilfe-Koffer aus meinem Rucksack und lief zurück zu dem Verletzten. Ryan untersuchte Nevio, tastete ihn ab und stellte eine geprellte Rippe und eine verstauchte Hand fest. Er kühlte die Rippe mit Eis, verband die Finger und gab dem Erdjungen eine Tablette. Dann streckte er ihm die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen und Nevio wollte sie gerade ergreifen, als er mitten in der Bewegung inne hielt, die Augen weit aufgerissen. "Was ist?" fragte Lia ängstlich. Keine Antwort. "Was ist los, Neyo? Kriegst du keine Luft?" rief Ryan. Doch Nevio schüttelte den Kopf. "Sag doch, was passiert ist." drängte ich ihn. Der Junge sah uns alle der Reihe nach an. "Wir sind nicht allein." sagte er. "Was?!" riefen wir alle und sahen uns panisch um, erkannten allerdings niemanden. Nevio presste seine Hand noch mehr auf die Straße und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. "Es sind ... fünf. Sie sind vielleicht 250 Kilometer von hier entfernt. Aber sie strahlen eine unfassbare Energie ... aus. So was habe ich noch nie gespürt. Es ist als würde der ganze Boden vibr ... ieren." "Sind sie uns wohlgesonnen?" fragte Ryan. Nevio runzelte die Stirn. "Drück dich mal nicht ... so komisch aus, Bruder. Aber woher soll ich denn wissen, wie die ... drauf sind? Bin ich Moses? Meine Güte. Ihr ... traut mir viel zu viel zu. Möchtest du vielleicht noch Beziehungsstatus, Haarfarbe und Adresse? Warte, ich ... " "Ja, schon gut." unterbrach Ryan ihn. "Was machen sie?" Eine kurze Pause entstand.
"Sie bewegen sich in einem extremen Tempo auf uns zu. Und ich glaube, hinter ihnen explodiert die Welt."
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Der Kompass der Zeit *Pausiert*
FantasiaKleine Stürme oder Brände sind nichts neues für die Bewohner von Cãru, doch die Naturkatastrophen die die Stadt nun heimsuchen, sind etwas ganz anderes. Vier Kinder die die Elemente beherrschen, müssen sich auf die Suche nach den Urhebern dieses Ele...