Ich möchte Taten sehen. Jaron hatte das ernst gemeint. Ziemlich ernst sogar, wie ich am eigenen Leibe erfahren musste. Am nächsten Tag weckte mich Nevio um punkt 6 Uhr. Alle anderen im Lichterzimmer schliefen noch. Ich zog mich um und Nevio führte mich durch ein paar Gänge. Obwohl erst in einer Stunde Weckzeit war, war schon einiges los. Ich trat schnell zur Seite, als vier Jungen und drei Mädchen mit Sebeln bewaffnet an uns vorbeirannten. Auf dem Innenhof jagten sich ein paar Kids über das Fußballfeld, während auf einer Bank neben ihnen ein paar Sechzehnjährige noch schnell ihre Hausaufgaben nachholten. Aus dem Essensraum drang bereits der himmlische Geruch von Spiegeleiern mit Speck und warmem Kakao. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, aber Nevio zog mich ungeduldig eine Treppe hinab. So wie es aussah, gab es hier also auch noch unterirdische Räume. Nevio betätigte einen Lichtschalter und sofort sprangen überall an den Wänden des Ganges kleine Lampen an. Ich folgte dem Braunhaarigen zu einer großen Stahltür. Er gab einen Zahlencode in ein Tippfeld an der Wand ein und sofort schwang die Tür zur Seite. Ein großer Raum breitete sich vor uns aus. Ich trat zögernd ein. Die Wände waren -wie auch die Tür- aus Stahl. An ihnen waren in verschiedenen Höhen Zielscheiben, Basketballkörbe und Puppen aus Stoff und Holz angebracht. Von der Decke hingen lange Seile aus Hanf aber auch aus Stahl, die bis zum Fußboden reichten. An der einen Wand standen mehrere verschlossene Kisten. Außerdem gab es eine ziemlich beängstigend aussehende Kletterwand, einen kleinen Pool der auf mich in dieser Umgebung allerdings keinen einladenden Eindruck machte, mehrere Fitnessgeräte, bunte Matten, Laufbände und andere Geräte dessen Namen ich nicht kannte. "Willkommen in der Sporthölle." sagte Nevio feierlich und schloss die Tür hinter uns. Dann griff er nach einer Fernbedienung, drückte ein paar Knöpfe und schon dröhnte mir aus allen Richtungen laute Musik entgegen. Und dann begann der Wahnsinn.
Nevio scheuchte mich fünfzehn Runden durch den Raum und begann dann mit dem Dehnen. Als nächstes ließ er mich Gewichte heben, auf einem Laufband laufen, Hochsprung und Handstand üben, erst ein paar Meter an der Kletterwand und später auch an einem der Seile aus Hanf hinaufklettern und zum Schluss - als ich nur noch atemringend und schwitzend auf dem Boden hocken konnte - Messerwurf üben, was natürlich wieder mächtig daneben ging. Nachdem ich gefühlte zweihundert Mal danebengeworfen und Nevio meine Haltung korrigiert hatte, ließ er es schließlich seufzend bleiben. "Okay, das war's." Ich stöhnte erleichtert, aber Nevio lachte nur. "Mach dir mal keine Hoffnungen. Du hast jetzt erstmal ein paar Stunden normalen Unterricht und dann geht's weiter. Ich mach aus dir noch 'ne richtige Sportskanone, wirst schon sehen." Ich sah ihn entgeistert an und ließ mich bei der Vorstellung, dass Nevio mich heute noch weiter schändigen würde, stöhnend zu Boden sinken.Lia war verschwunden. Sie tauchte weder zum Unterricht, noch zum Mittag oder zu den Pausen auf. Amelie meinte, sie hätte ein Schluchzen aus Lia's Zimmer gehört, aber als sie zögerlich geklopft und nach Lia's Befinden gefragt hatte, hatte Lia nur noch mehr zu weinen angefangen und gerufen, Amelie solle sich verziehen. Das war eigentlich gar nicht ihre Art. Isabelle zuckte nur betrübt die Schultern und sagte, wir sollen uns keine Sorgen machen. Lia hätte nur einen schlechten Tag. Glauben tat das keiner, aber wir wollten auch nicht Trübsal blasen, wenn wir noch nicht einmal den Grund dafür wussten. Elsie und Chloe tuschelten aufgeregt, als ein ziemlich gutaussehender Junge an unserer Bank vorbei ging. Er drehte sich zu ihnen um und zwinkerte geheimnisvoll, bevor er zum Fußballfeld joggte. "Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!" rief Chloe, ihre Stimme ein paar Oktaven höher als normalerweise. Elsie schien ebenfalls gleich in Ohnmacht zu fallen. "Er hat uns angeguckt!" quietschte sie. "Wer?" fragte ich irritiert, denn ich hatte diesen Jungen noch nie hier gesehen. "José Sánchez! Der heißeste Wächter des Universums! Er hat uns angeguckt! Uns!" Elsie konnte ihr Glück kaum fassen. "Ich dachte, Levi hätte es euch angetan." erwiderte ich grinsend und streckte meine Beine in der gleißenden Sonne. Es war ziemlich warm und auf dem Gelände tummelten sich Jugendliche wie Wespen in ihrem Nest. Die Explosion hatte ziemlichen Schaden angerichtet, aber Jaron hatte zu einer Wiederaufbau-Aktion aufgerufen und innerhalb weniger Stunden waren neue Bänke gebaut worden. Für die Bäume, die bei der Explosion zu Schaden gekommen waren, wurden neue gepflanzt. Doch um einen großen Teil der Mauer einigermaßen neu zu errichten, hatte es fast zwei Tage gebraucht und auch jetzt waren immer noch ein paar Leute damit beschäftigt. Die Explosion war nicht besonders groß gewesen und hatte niemanden sonderlich doll verletzt. Amelies Bein war zwar bandagiert, weil sie es sich bei dem Aufprall verstaucht hatte, Chloe hatte leichte Verbrennungen im Gesicht davongetragen und die Ärzte hatten meinen Arm wieder richtig einrenken müssen, aber es ging allen gut. Der Komet hatte für ziemlich viel Wirbel gesorgt. Es war nur ein kleines Stück eines richtigen Kometen, kaum zwei Meter groß, aber trotzdem hatte er eine Menge Fragen aufgeworfen. Warum sollte ausgerechnet hinter die Mauern dieses Geländes der Splitter eines Kometen fallen? Und wie hatte er die magische Schutzmauer durchbrochen, die (wie Amelie mir erklärt hatte) über dem Gebäude, dessen Hof und Umgebung lag? Ein paar der Wissenschafts-Kids hatten den Kometen sogar auseinandergenommen und untersucht. Aber bis auf ein paar Metallsplitter war darin nichts zu finden gewesen. Doch allmählich verflog die angespannte Atmosphäre wieder und es würde nicht mehr lange dauern und der Komet würde für keinen Gesprächsstoff mehr dienen.
Über Chloes Wangen huschte nun ein Hauch Rosa, doch Elsie zuckte nur die Schultern und sagte: "Levi ist unser Kumpel. Wie der beste männliche Freund. Er ist für jeden von uns wie ein Bruder. Und außerdem ist er Lia's Zwilling. Das gäb 'nen Gezeter, wenn sich eine von uns mit dem einlässt. Aber José ist eine richtige Legende! Gerüchten zufolge sollte er mal einen Jungen des Stein-Elementes in den Bergen suchen. Er ist zehn Tage herumgeirrt und hatte nur ein Messer mit. Ernährt soll er sich von den Tieren dort haben und aus den Fellen hat er sich Kleidung und Decken gemacht und ..." "Klingt für mich wie ein ziemlicher Spinner! Wer macht sich denn auf die Suche in die Berge nur mit einem Messer und sonst nichts? Ich sag's euch wie's ist: der Typ hat einen an der Waffel!" unterbrach Amelie die wilden Erzählungen Elsies. Sie hatte sich auf die Lehne der Bank gelegt, die Hände hinter dem Kopf gekreuzt und die Augen geschlossen. Empört drehten sich Chloe und Elsie zu ihr um. Und schon begann eine hitzige Diskussion darüber, ob José Sánchez ein heißer Abenteurer oder einfach nur ein wahnsinniger Vollidiot war. Ich hielt mich raus, ebenso wie Matilda die gerade wieder zu uns gestoßen war, nachdem sie ein paar Runden Volleyball mit ihrer Cousine und deren Freunden gespielt hatte.Als ich auf die Uhr schaute, war es 18:30 Uhr. Nevio hatte sich vor unserem Trainingsraum mit mir verabredet. Seit unserer ersten Übungsstunde waren tatsächlich schon fast zwei Wochen vergangen. Morgen hatten wir ein Gespräch mit Jaron in dessen Büro. Ich hatte ziemliche Fortschritte gemacht in den vielen Stunden des Übels. Von zehn Messerwürfen fanden acht ihr Ziel, das Klettern an den Seilen und der Kletterwand fiel mir nun auch viel leichter und nach siebzehn Anläufen hatte ich es auch geschafft, durch den Pool mit den seltsamen Fischen zu schwimmen, ohne dass mich einer davon mit grüner Flüssigkeit bespuckte und meine Haut davon ekelhafte Blasen warf, die erst nach einer Stunde wieder zurückgingen. Nevio schien zufrieden mit seiner Arbeit zu sein und als er jetzt um die Ecke bog, zierte ein breites Grinsen sein erschöpftes Gesicht. "Letztes Mal heute, Girl." sagte er und öffnete mithilfe des Zahlencodes (den er mir immer noch nicht verraten wollte) die große Tür. Wir gingen alle Geräte mehrmals durch und übten uns dann noch ein wenig im Nah- und Schwertkampf. Nevio war natürlich wieder der Sieger, aber das war auch in den vorigen Stunden nie anders gewesen. "Hast du Lie gesehen in der letzten Zeit?" fragte ich Nevio nach einer weiteren harten Niederlage meinerseits. Über sein Gesicht huschte ein Schatten. "Nein. Nicht einmal. Mir wurde erzählt, dass sie seit zwei Wochen ihr Zimmer kaum verlassen haben soll. Sie erlaubt keinem ihr Zimmer zu betreten." Ich biss mir auf die Unterlippe und parierte Nevios Schlag. Vielleicht würden wir ja bei dem morgigen Gespräch mit Jaron mehr herausfinden.
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Der Kompass der Zeit *Pausiert*
FantasiKleine Stürme oder Brände sind nichts neues für die Bewohner von Cãru, doch die Naturkatastrophen die die Stadt nun heimsuchen, sind etwas ganz anderes. Vier Kinder die die Elemente beherrschen, müssen sich auf die Suche nach den Urhebern dieses Ele...