Kapitel 4

146 26 10
                                    

Die lange Straße, an der wir standen, war von Bäumen flankiert. Die Luft roch wunderschön nach Laub und frischem Gras. Ich breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis. Die meisten Menschen würden jetzt wahrscheinlich sagen, dass sich dies wie in einem Karussell anfühlte, doch ich war noch nie Karussell gefahren und konnte es deshalb nicht so erklären. Hätte ich diesen Moment beschreiben müssen, so hätte ich gesagt: Als ich mich drehte, fühlte es sich an, als würden alle Sorgen von mir davonfliegen. Ich spürte Freiheit und Glück und war dem fremden Mann so unendlich dankbar dafür, dass er mich von dem Gefängnis erlöst hatte. Ich kannte ihn zwar noch nicht, aber ich würde ihm das nie vergessen! "Du scheinst dich zu freuen, von hier fort zu gehen." sagte der Mann lächelnd. Ich blieb stehen. Kleine weiße Lichter tanzten vor meinen Augen hin und her. Mir war schwindelig und ich torkelte auf die Straße, doch der Mann zog mich behutsam am Arm zurück auf den Bürgersteig. "Ganz ruhig." lachte er. "Wollen wir?" Er sah mich fragend an und als ich nickte, nahm er meinen Koffer und führte mich zu einem großen schwarzen Transporter. Ich musste zugeben ich war noch nie in meinem ganzen Leben in ein Auto gestiegen, geschweige denn mit einem gefahren. Mit vor Aufregung pochendem Herzen ließ ich mich auf einen der Sitze fallen und der Mann schob den Koffer in den Kofferraum. Dann schloss er die Tür und ging um das Auto herum. Er öffnete die Fahrertür und setzte sich hinter das Lenkrad. "Angeschnallt?" fragte er und drehte sich zu mir um. Ich sah ihn verwirrt an. "Angeschnallt? Was ist das?" Der Mann runzelte die Stirn und fragte sich anscheinend ob ich das Ernst meinte. "Du...du weißt wirklich nicht was angeschnallt ist?" Ich schüttelte den Kopf. "Also nun ja, hinter deinem Sitz ist so ein Gurt, den ziehst du nach vorne." Ich sah hinter meinen Sitz und da war wirklich etwas. Ich zog es zu mir und sah den Mann an. "Ähm...neben dir ist so ein komisches schwarzes Ding, da musst du das eine Ende des Gurtes reinstecken bis es Klick macht." erklärte der Mann. Ich verstand nicht was er wollte und das sah man mir scheinbar an. "Ach warte." seufzte der Mann, stand auf, ging zu mir und machte es selbst. Ich sah gebannt zu wie er es machte und ich hatte das Gefühl es verstanden zu haben. "Gut." sagte der Mann, als ich angeschnallt war, setzte sich wieder hinter das Lenkrad und fuhr los. Ich hätte gerne gesehen wie er das Auto dazu gebracht hatte, sich in Fahrt zu setzen, aber der Sitz auf dem der Mann saß, versperrte mir die Sicht. Ich sah aus dem Fenster und schaute zu wie das Kinderheim immer kleiner wurde und schließlich hinter einem Hügel verschwand. Ich verspürte keine Traurigkeit oder Heimweh, denn ich hatte keine schönen Erinnerungen was das Heim anging. Es war früher Nachmittag und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. "Wo fahren wir hin?" fragte ich und saugte begeistert jede Einzelheit dieser fremden Welt in mich auf. "Es ist ein bisschen entfernt." erwiderte der Mann. "Wo ist denn dein Haus?" Ich wollte mehr über diesen Mann herausfinden, schließlich war er jetzt so etwas wie mein Adoptivvater. Er lachte. Was bitte war denn daran lustig?! Ich löste meinen Blick von der hügeligen, grünen Landschaft, an der wir gerade vorbeifuhren und starrte die Rückseite, des Stuhls auf dem der Mann saß, an, als würde sie mir gleich sagen, warum meine Frage ihn so amüsierte. "Wir fahren nicht zu mir nachhause." antwortete er nach einer sehr, sehr langen Pause. Ich runzelte die Stirn. "Aber ich denke ich wohne jetzt bei dir?" Völlig verstört und durcheinander war ich auf eine Antwort gespannt, doch die ließ lange auf sich warten. Die Sonne warf ihre Strahlen durch die große Fensterscheibe des Transporters. Langsam wanderten die Strahlen über die Sitze und die Wände des Autos. Immer noch auf eine Antwort wartend, betrachtete ich das Licht, bis sich eine dunkle Wolke vor die Sonne schob. Vielleicht würde es ja ein Gewitter geben? Ich liebte dieses Phänomen. Wenn die Blitze sich einen Weg aus den Wolken bahnten und mit ihrem gleißenden Licht und den verschiedenen Formen den Himmel erleuchteten! Viele in dem Kinderheim hatten sich zusammengedrängt und angefangen zu weinen, sobald auch nur ein fernes Grollen ertönte. Ich hingegen hatte mich an's Fenster gestellt und nur darauf gewartet, dass es über dem großen Haus zu blitzen und donnern begann. Und wie gerufen zuckte plötzlich ein einzelner Blitz über dem Wald durch den wir gerade fuhren. Er war wunderschön gewesen, verzweigt. Wie ein schlankes kleines Monster, dass seine Arme in alle möglichen Richtungen streckte um auch ganz sicher den gesamten Himmel zu berühren. Regen hämmerte gegen die Scheibe und lief in dünnen Bächen daran hinunter. Die Sonne war nun vollkommen hinter den dicken, grauen Wolken verschwunden. Ein paar einsame Wanderer versuchten sich unter den Bäumen vor dem Regen zu schützen und warteten darauf, dass sich das Wetter wieder besserte. Ich hingegen wartete immer noch auf eine Antwort. Nachdem wir noch ein paar Kilometer gefahren waren, bekam ich diese auch endlich, aber nachdem ich sie gehört hatte, wusste ich nicht mehr als vorher auch schon. Sie lautete: " Nicht direkt."

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt