Kapitel 14

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Für ein paar Sekunden blieb ich reglos vor der Tür stehen, dann klopfte ich und trat zögernd ein. Das Büro sah aus wie immer: rund mit einem Schreibtisch und Sesseln. Natürlich. Was hatte ich denn erwartet? Dass Jaron mir mit einer Ritterrüstung bekleidet entgegengetreten, ein Schwert in die Luft recken und "Auf in die Schlacht!" brüllen würde? Mach dich nicht lächerlich, Thalia. Doch dann besah ich mir den Raum genauer und erkannte doch leichte Veränderungen zum letzten Mal. Jaron sprach mir leiser Stimme auf Lia ein, die, wie ich erst bei näherem Betrachten sah, eingesunken auf einem der Sessel saß, die Knie eng umschlungen an die Brust gepresst, das übliche strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht durch eine ausdruckslos blasse Maske und einen leeren Blick ersetzt. Ihr Zustand war bei weitem schlimmer als wir gedacht hatten. Aber was war der Grund dafür? Leises Knistern rechts von mir ließ mich herumfahren. Eine große Kiste stand in der Ecke, die so fehl am Platz wirkte wie der Junge, der darauf saß. Flammend rotes Haar bedeckte seine hohe Stirn und fiel ihm in die leuchtend orange wirkenden Augen. Aber vielleicht spiegelte sich auch nur die kleine Flamme darin, die auf seiner Handfläche loderte. Er lächelt nicht, sondern betrachtete nur das Feuer. Als er merkte, dass ich ihn anstarrte, schloss er seine Hand zur Faust und erstickte die Flamme dabei. Er sah mir erst grimmig ins Gesicht, dann betrachtete er mich von Kopf bis Fuß, als wollte er abchecken, mit wem er es zu tun hatte. Ein unwohles Kribbeln breitete sich in mir aus, aber ich versuchte seinem Blick standzuhalten. Aber als seine Augen sich zu Schlitzen verrenkten, gab ich nach und starrte auf meine Schuhe. Zum Glück flog in diesem Moment die Bürotür auf und ein strahlender Nevio kam mit federnden Schritten herein. Als er die bedrückte Atmosphäre mitbekam, blieb er stehen und fragte: "Wow, was ist hier denn los? Ist irgendwer gestorben?" Aus Lia's Sessel kam ein undefinierbares Geräusch. Jaron seufzte. "Nun sind wir ja vollzählig. Setzt euch bitte." Er deutete auf die Sessel vor ihm. Nevio warf Lia einen kurzen Blick zu, fläzte sich dann in den Sessel neben ihr und legte seine Füße auf den Schreibtisch, was Jaron nur mit einen missbilligenden Blick kritisierte. Ich setzte mich neben Nevio. Für drei Sekunden trat Stille ein, dann kam aus der hinteren Ecke mit tiefer Stimme: "Ich bleibe hier sitzen." Jaron seufzte erneut und faltete seine Hände im Schoß. "Nun gut. Wo beginne ich?" Nevio lehnte sich zurück. "Wie wär's mit 'ner kleinen Vorstellrunde? Schließlich kennen wir den dahinten nicht und er uns auch nicht." Nevio deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf den Jungen mit den flammend roten Haaren. Ich wollte gerade einwerfen, dass ich den Jungen schonmal gesehen und er mir damals irgendeine unverständliche Nachricht ins Ohr geflüstert hatte, aber als ich in die funkelnden Augen des Jungen sagt, schluckte ich meine Antwort herunter. Jaron zog die Augenbrauen hoch, nickte aber. Nevio drehte sich so zu dem Feuerjungen um, dass er ihn sehen konnte und begann: "Also, Kumpel. Ich bin Nevio Elsworth. 14 Jahre alt. Bin in Manchester - England, falls du's mit Geographie nicht so hast - geboren worden, aber mit zwei Jahren in dieses Land gekommen; Gründe brauchen dich nicht zu interessieren. Ich bin Manchester United Fan, falls du's mit Fußball am Hut hast. Lieblingsessen Sandwich, aber Pasties tun's auch. Rechtshänder, Musikliebhaber, leidenschaftlicher Veganer - nein, war'n Witz, ich liebe Fleisch - reisefreudig, momentan Single ..." "Nevio!" unterbrach Jaron den Braunhaarigen. "Wir haben nicht alle so viel Zeit wie du." Nevio grinste Jaron frech an und sagte: "Aber so alt sind Sie doch gar nicht." Ich biss mir auf die Lippe. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder entsetzt nach Luft schnappen sollte. Das ging auf jeden Fall zu weit. Aber ein Blick in Jaron's Richtung überraschte mich. Um die Lippen des Mannes zuckte ein Lächeln. "Ich danke dir." sagte er und Nevio erwiderte: "No problem, Sir." Noch verwirrter war ich, als ich aus der Ecke ein leichtes Kichern hörte, was für mich aber eher wie ein tiefes Röcheln klang. Jaron sah mich an. "Möchtest du auch noch deinen Lebenslauf und deinen Beziehungsstatus loswerden?" Ich schüttelte schnell den Kopf. Das letzte was ich jetzt wollte, war, dem Feuerjungen etwas über mich zu erzählen. Jaron deutete erst auf mich: "Thalia. 13 Jahre alt. Element Wasser." und dann auf Lia: "Liana Jacobs. 14 Jahre. Element Luft." Ich konnte den Blick des fremden Jungen auf meinem Rücken spüren und begann angestrengt meine Finger zu betrachten, als seien sie das spannendste in diesem Raum. "Okay machen wir's kurz. Ich heiße Leyen, Nachname geht euch nichts an. Bin 14 Jahre jung, und, wie vielleicht schon manche von euch mitbekommen haben, Element Feuer. Sonst noch Fragen?" Nevios Hand schoss in die Höhe, als wäre er hier im Unterricht und nicht im Büro des Rektors, doch Jaron schüttelte den Kopf und er ließ sie wieder sinken. Der Schulleiter begann mit seiner Erklärung: "So, dann wäre das ja jetzt geklärt und wir können zu den wichtigen Angelegenheiten kommen. Hat einer von euch in den letzten Tagen die Nachrichten gesehen? Nur Nevio? Dann erkläre ich die Lage wohl besser noch einmal. Seit knapp einem Monat passieren seltsame Dinge dort draußen. Von einem Moment auf den nächsten brechen Stürme los von solch einer Stärke, dass in weniger als zwei Minuten ganze Häuser verschwunden sind. Gerade scheint noch die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und plötzlich zieht ein Gewitter auf und hunderte Blitze sorgen für Stromausfall. Ganze Wälder verbrennen ohne Grund oder unvorhergesagte Sturmfluten brechen über Häfen zusammen. Tornados verwüsten die Städte. Kurzum: es ist das totale Chaos. Der Komet, der bei uns eingeschlagen hat, war fast nichts dagegen. Kaum ein Mensch traut sich mehr auf die Straße aus Angst um sein Leben. Es sind schlimme Zustände und Besserungen sind nicht in Sicht. Wirklich seltsam dass Nevio der einzige von euch ist, der davon gehört hat. Noch passieren diese Katastrophen nur in unserem Land, aber es ist nur eine Frage der Zeit bis auch andere Länder und Staaten befallen sind. Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, ist die ganze Welt bedroht." Ich meldete mich zögerlich zu Wort. "Ähm ... Sir ... was genau haben wir denn damit zutun?" fragte ich. Jaron sah mir fest in die Augen. "Ihr sollt etwas finden." Ich sah ihn verwirrt an. "Etwas finden?" "Etwas finden." bestätigte der Mann. "Es ist nicht besonders groß, aber umso mächtiger. Hat irgendjemand von euch schon mal etwas vom Kompass der Zeit gehört?" Alle schüttelten den Kopf. "Vor tausenden von Jahren herrschte Krieg zwischen den normalen Menschen und denen mit elementaren Fähigkeiten. Die Normalen hielten unsere Vorfahren für böse Dämonen und Mutanten. Sie hatten Angst und versuchten diese Angst mit Hass zu überspielen. Vertreter von allen Elementen versammelten sich und versuchten zu einer Lösung zu kommen. Sie wollten keinen Krieg. Sie wollten ein friedliches Leben ..." "Okay, okay. Können wir uns die Märchenstunde für später aufheben? Schließlich waren Sie es, der vor wenigen Minuten gesagt hat, dass wir nicht alle viel Zeit hätten. Also bitte machen Sie es kurz und kommen Sie zum Punkt." warf Leyen, der Feuerjunge, ein. Ich konnte diesen Typen mit jedem mal weniger leiden. Jaron holte einmal tief Luft und antwortete: "Also gut. Man kann es auch keinem von euch Recht machen, was? Dann eben die kürzere Variante: die Vertreter entschieden, etwas zu erschaffen, was den Krieg beenden sollte. Nach stundenlanger Diskussion schlug schließlich einer den Kompass der Zeit vor. Dieser sollte es einem ermöglichen, in die Zukunft und in die Vergangenheit zu reisen. Gesagt, getan. Noch am selben Abend war er fertig. Die Vertreter reisten in die Vergangenheit, überzeugten die Menschen von ihren friedlichen Absichten und schon war der Krieg beendet." "Alles klar, klingt ja ganz easy. Also, ich fass es mal kurz zusammen: Sie geben uns diesen Kompass, wir beamen uns mal eben 'nen paar Tage zurück, sorgen dafür, dass dieser ganze Katastrophen-Mist gar nicht erst beginnt, kommen dann gemütlich wieder her und feiern unsere Weltrettungsaktion erstmal mit 'nen bisschen Haggis." Nevio lehnte sich zurück, als hätten wir gerade den Auftrag bekommen, eine alte Frau über die Straße zu führen und nicht, um die Welt zu retten. Jarons Blick wurde ziemlich ernst, als er erwiderte: "Erstmal feiern wir hier nicht mit gefüllten Schafsmägen und seit wann hast du eigentlich was mit den schottischen Spezialitäten am Hut? Nein schon gut, sag nichts. Und zweitens gibt es da eine kleine Unannehmlichkeit. Der Kompass ist nämlich seit ca. 2000 Jahren spurlos verschwunden." Leyen lachte dumpf. "Eine kleine Unannehmlichkeit? Stimmt, geradezu winzig. Sagen Sie mal, wollen sie mich auf den Arm nehmen? Sie holen uns her, erzählen uns den ganzen Kram von wegen rettet die Welt! und so'm Mist und dann fällt ihnen plötzlich ein, dass Sie diesen gottverdammten Kompass gar nicht erst haben? Ich denke, Sie sind reif für die Klapse." Ich sah Leyen entgeistert an. Sein Gesicht war unbewegt. Kein Muskel zuckte, in seinen Augen leuchtete kein spielerisches Feuer. Nevio hob nur die Augenbrauen, sagte aber nichts. Jaron hingegen setzte sich kerzengerade auf und sagte mit fester Stimme: "Und ich denke, dass du nicht reif genug bist, um dies zu entscheiden. Ich mache es jetzt so kurz wie möglich, damit ich euch los bin und mir so etwas nicht mehr anhören muss. Vor kurzer Zeit sorgten Gerüchte für Aufruhr, die besagten, dass der Kompass in einer kleinen, abgelegenen Stadt in Dänemark gesichtet wurde. Der Plan sieht folgendermaßen aus: ihr fahrt zum Flughafen - fliegen ist kürzer als mit der Fähre - und trefft euch dort mit einem Jungen. Er heißt Ryan und ist 13 Jahre alt. Er ist zwar ein Jahr jünger als die meisten von euch, aber er hat mehr Verstand und Mumm als ihr alle zusammen." Leyen schnaubte, aber Jaron ignorierte ihn. "Gemeinsam fliegt ihr dann nach Dänemark. Während dem Flug habt ihr dann auch ein bisschen Zeit euch besser kennenzulernen. Nachdem ihr gelandet seit, erklärt Ryan euch alles weitere. Alles klar?" "Wir fliegen?!" fragte Nevio entsetzt. Leyen lachte. "Hat da jemand Flugangst?" Nevio drehte sich zu ihm um. "Ja, ich habe Höhenangst. Ich bin einfach lieber auf sicherem Boden. Weißt du eigentlich, wie viele Flugzeugunfälle jährlich passieren?" fragte er. "Das wollen wir gar nicht so genau wissen, denke ich. Schaffst du das trotzdem, Nevio, oder soll ich dich doch noch auf ein Schiff einschleusen?" meinte Jaron. Nevio biss die Zähne zusammen, schüttelte aber den Kopf. Jaron nickte, erhob sich und ging um den Schreibtisch herum auf die große Kiste zu, auf der Leyen saß. Der Junge sprang herunter und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Jaron zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schob ihn in das Schloss der Kiste. Mit einem leisen Geräusch öffnete der Schulleiter den Deckel und wir alle reckten unsere Hälse um den Inhalt besser sehen zu können. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber die Rucksäcke fand ich dann doch irgendwie enttäuschend. Wie frisch gekauft sahen sie aus. Alle waren sie tarnfarben. Jaron sah uns der Reihe nach an und fragte: "Was ist? Holt sie euch." Nevio und ich sprangen neugierig auf, Lia folgte uns langsam. Jaron wies jedem von uns einen Rucksack zu. Meiner war etwas kleiner als die der anderen und es überraschte mich, wie leicht er war. "In jedem Rucksack befindet sich ein Schlafsack, eine Thermoskanne, Nahrungsmittel, Kleidung, ein erste Hilfe Set, Geld, ein paar eurer eigenen Habseligkeiten und verschiedene Dinge, die nützlich werden könnten." Wir alle sahen den Mann an. War das sein Ernst? Der Rucksack fühlte sich an, als wäre er leer und auch war er nicht besonders groß. "Es hat ein wenig gedauert, bis diese Rucksäcke fertig entwickelt waren. Aber wenn ihr euch auf die Suche nach dem Kompass macht, könnt ihr keinen unnötigen Ballast gebrauchen." "Wann brechen wir auf?" fragte Nevio, während er den Inhalt seines Rucksacks genauer unter die Lupe nahm. Jaron warf einen Blick auf die Armbanduhr an seinem rechten Handgelenk. "In knapp einer Stunde." "Was? Wir müssen uns doch noch von unseren Freunden verabschieden und vielleicht etwas einpacken, was uns viel bedeutet." warf ich ein. "Tja, Thalia, dann tue dies eben schnell. Ihr könnt jetzt gehen. In einer Stunde treffen wir uns am Eingangstor."

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt