E-Mail für dich (Teil 1)

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Der Mensch muss sich stets auf neue Überraschungen gefasst machen.
(Max Planck)

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Anfang November 2012
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„Gute Nachrichten von deinem Freund?"
Ein freches Grinsen zierte ihre kirschrot geschminkten, vollen Lippen, als Yelena mir neugierig über die Schulter blickte. Genervt stöhnend klappte ich den Laptop zu und drehte mich zusammen mit dem Schreibtischstuhl zu ihr um. Sie band sich gerade ihre langen, dunkelbraunen Locken zu einem leichten Pferdeschwanz und quittierte meinen tödlichen Blick nur mit einem für sie so typischen glockenhellen Lachen. Bevor sie mir sagen konnte, dass ich an meinem Todesblick echt noch üben müsse, fragte ich sie seufzend: „Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass David nicht mein Freund ist? Du glaubst echt nicht daran, dass Mann und Frau einfach nur Kumpels sein können oder?"

In den vergangenen eineinhalb Monaten hatten wir diese Diskussion mehr als einmal geführt. Um genau zu sein, jedes Mal, wenn ich mit David telefonierte oder eine Mail von ihm las. Auch wenn mich dieses Thema ein wenig nervte - kam es doch dank Rachel schon in Dublin oft genug zur Sprache - war es doch zu so etwas wie einem Running Gag zwischen uns geworden. Sie zog mich mit meiner Freundschaft zu David auf, während ich mich über ihre Schwärmerei für Johnny Depp lustig machte. Freundschaftliche Kabbelei eben.

„Du weißt, wie ich darüber denke!", gab sie keck grinsend zurück. Ungeniert ließ sie das Handtuch, das bis eben noch ihren verdammt perfekten Körper bedeckt hatte, fallen und öffnete die Türen ihres Kleiderschranks, der direkt neben dem langen Schreibtisch stand, der eigentlich Platz für uns beide bot. Meistens jedoch stapelten sich so viele Bücher, Notizzettel, Textmarker und Skriptkopien auf der hellbraunen Tischplatte, dass nur einer der beiden Arbeitsplätze wirklich nutzbar war.

„Zieh' dir endlich was an oder ich fall' wirklich noch über dich her!", scherzte ich lachend, wie so oft, wenn sie nackt oder nur mit Unterwäsche bekleidet vor mir stand. Wenn ich nicht zu 100% hetero gewesen wäre, ich hätte mich schon längst in diese unverschämt sympathische und unverschämt gut aussehende Frau verknallt. Vielleicht war ich das aber auch ... irgendwie ... auf einer freundschaftlichen Ebene.

„Mach doch!"
Ihre übliche, herausfordernde Antwort. Das waren zwei der vielen Gründe, aufgrund derer ich Yelena selbst nach so kurzer Zeit schon so sehr mochte. Ihr Humor, die Art mit mir zu scherzen und jeden Blödsinn mitzumachen. Und das Wissen um ihre Schönheit und um ihre positive Wirkung auf andere Menschen, welches sie jedoch nie einsetzte, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Bescheidenheit war eine Tugend, die sie sehr ausgiebig pflegte.

Lachend stand ich auf und gab ihr einen Klaps auf den blanken Po, ehe ich selbst in dem kleinen Badezimmer verschwand, aus dem sie ein paar Minuten zuvor gekommen war. Die E-Mail war wirklich von David, doch die Nachrichten waren nicht sonderlich gut. Fiona hatte sich zwar endlich um einen Kindergartenplatz für Cillian gekümmert, zu mehr hatte ihre Motivation jedoch nicht gereicht. Anstatt die nun für sie freie Zeit sinnvoll zu nutzen, hing sie tatenlos daheim oder bei „irgendso einem Kerl" herum. Als ob ich nichts besseres zu tun hätte als mir Sorgen um meine kleine Schwester zu machen!

Die letzten Wochen waren hart und voll von Arbeit, Arbeit und nochmal Arbeit gewesen. Was die dunklen Schatten unter meinen sonst so strahlenden bernsteinfarbenen Augen bezeugten. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass die Ausbildung so verdammt hart werden würde. Es gab so viel zu lernen ... Theorie, Schauspieltechnik, Körperwahrnehmung, Tanz, Bühnenkampf, Sprecherziehung, Stimmtraining, Gesang ... und das bildete nur einen Bruchteil der Ausbildungsinhalte. 40 Stunden, 5 Tage in der Woche. Am Wochenende stand Lernen und selbstständiges Üben auf dem Programm. Und dennoch ... ich hatte verdammt viel Spaß daran.

Heute aber hatten Yelena, Ty und ich beschlossen, den Samstagabend endlich mal wieder für eine Runde Party zu nutzen. Das erste Mal seit der großen Willkommensfeier in der ersten Schulwoche. Verdient hatten wir es uns allemal. Also schob ich die Gedanken an David und meine Schwester weit von mir und machte mich daran, die Müdigkeit in meinem Gesicht sorgfältig zu überschminken.

„Du bist ja immer noch nicht angezogen!", stellte ich überrascht fest, als ich mich dezent geschminkt und frisiert wieder zu Yelena gesellte. Diese stand noch immer vor ihrem Schrank, um sie herum am Boden zahlreiche Kleidungsstücke. Sie konnte sich mal wieder nicht entscheiden, was sie anziehen sollte ... typisch Yelena!

„Du doch auch noch nicht!", erwiderte sie lachend und zog ein weiteres Kleid hervor, dass sie sich kurz an den Körper hielt, ehe es ebenfalls achtlos zu Boden segelte. „Dein Laptop hat gepiepst, scheinbar hast du noch eine Mail von deinem Liebsten bekommen", fügte sie beiläufig hinzu, griff nach einem royalblauen Seidenkleid - es war das selbe, dass sie auf meiner „Willkommen im Team - Party" nach meiner Vertragsunterzeichnung getragen hatte.

„Nimm das!", riet ich ihr, da sie in diesem Kleid schon damals unheimlich gut ausgesehen hatte. Während sie mit den Schultern zuckte und dann meinem Rat folgte, ließ ich mich noch einmal am Schreibtisch nieder. Ich wollte nur kurz sehen, wer mir da geschrieben hatte, ehe ich mich um mein eigenes Outfit kümmern wollte.

Als ich aber die Nachricht anklickte, da mir der Absender vollkommen unbekannt war, und ich die wenigen Zeilen oberflächlich überflog, blieb mir vor erstaunen der Mund offen stehen. Mein Herz schlug plötzlich wie wild und ich zitterte, ohne es zu bemerken.

„Hey, alles in Ordnung? Keela, von wem ist die Mail?", fragte Yelena besorgt, als sie mich so sah. Geschockt klappte ich den Laptop zu, starrte nun statt auf den Bildschirm auf die mintgrün gestrichene Wand vor mir.

„Von Tom ...", murmelte ich tonlos.

„Von welchem Tom?", bohrte Yelena weiter nach und drehte den Schreibtischstuhl mitsamt mir in ihre Richtung, legte den Kopf schief und sah mich mit ihren grünbraunen Augen forschend an.

„Na von dem Tom ..."

Yelenas Blick war ebenso ungläubig wie der meine. In einem stillen Moment hatte ich ihr auf die Frage, wie ich zur Stage School gekommen war, die ganze Geschichte erzählt. Von seiner Empfehlung, dem gemeinsamen Abend, dem verschütteten Kaffee, seinem Auftauchen während der Premiere. Zwar schien sie damals meinen Worten Glauben zu schenken, dass sie nun fragte, ob sie die Mail lesen durfte, wunderte mich dennoch nicht.

Mit einem Nicken klappte ich den Bildschirm des Laptops wieder nach oben und ließ sie über meine Schulter gucken, las dabei selbst noch einmal jedes einzelne Wort, um nun deren Inhalt gänzlich zu verstehen.



Liebe Keela,

Wie mir zu Ohren kam, gibt es guten Grund, dir zu gratulieren.
Herzlichen Glückwunsch zur Aufnahme in der Stage School of Dramatic Arts!
Ich wünsche dir während deiner Ausbildung alles Gute, hab' Spaß und genieße die Zeit - auch wenn es manchmal hart und anstrengend wird.

Du solltest dir bei Gelegenheit so viel wie möglich von London ansehen. Auch wenn ich voreingenommen bin, halte ich es für eine der schönsten Städte der Welt! Und wer weiß - vielleicht läuft man sich irgendwann über den Weg. Wobei ich es vorziehen würde, das nächste Mal auf verschütteten Kaffee zu verzichten.


Tom


P.S. Ja, ich schulde dir noch immer ein Autogramm! ;-)



Die Mail war kurz, ja. Und sie las sich fast ein wenig ... distanziert. Aber verdammt nochmal, Tom hatte sich bei mir gemeldet! Der Tom! Erst jetzt realisierte ich langsam, was das bedeutete. Ich war ihm scheinbar irgendwie im Gedächtnis geblieben ...

„Woah ..."
Yelena schien meine Aufregung nun endlich zu verstehen. Mit einem breiten Grinsen zog sie mich auf die Beine und drückte mich kurz, aber fest an sich.
„Scheinbar hast du wirklich einen berühmten Fan! Und deswegen machen wir dich nun so hübsch wie möglich, damit er endgültig von dir überwältigt ist, falls ihr euch begegnet!", beschloss sie noch immer grinsend, um sich sogleich über meinem Kleiderschrank herzumachen.

Es dauerte eine halbe Stunde länger als geplant, bis Yelena endlich mit dem Ergebnis zufrieden war. Ty wartete bereits ungeduldig auf uns und verstand die ganze Aufregung nicht im geringsten. Er wusste aber auch nichts von Tom ...

Das Ergebnis bestand zum einen aus einem eng anliegenden, schwarzen Kleid, das eigentlich Yelena gehörte. Und damit war es für mich, die etwa zehn Zentimeter größer war, ein knappes, schulterfreies Minikleid. Zum Glück hatte sie mir erlaubt, dazu schwarze, blickdichte Strümpfe zu tragen, sodass ich mich nicht zu nackt fühlte. Knallgelbe Pumps und ein gleichfarbiger Blazer verliehen dem Outfit etwas Farbe. Meine fuchsroten Haare hatte Yelena zu einer verspielten Hochsteckfrisur frisiert, wobei ein paar seitliche Strähnen mein Gesicht sanft einrahmten. Abgerundet wurde das ganze von grauen, etwas dezenter gehaltenen Smokey Eyes und etwas farblosen Lipgloss.

Zwar fühlte ich mich im ersten Moment etwas unwohl - selten hatte ich mich so aufgestylt - doch Yelenas Begeisterung und Tys schmeichelndes Kompliment überzeugten mich davon, dass ich so wirklich gut aussah. Die Party konnte also beginnen!



~*~


Natürlich lief ich Tom nicht über den Weg. Hatte ich auch gar nicht erwartet. Um ehrlich zu sein, verdrängte ich seine E-Mail auch, kaum dass wir am Club ankamen. Ich wollte nicht über ihn und seine Worte nachdenken ... ich wollte mit meinen Freunden Spaß haben und die Nacht genießen! Und dabei störte er leider.

Und wir hatten wirklich verdammt viel Spaß! Auch dieses Mal musste ich mir zunächst mit einem meiner geliebten Tequila Sunrise Mut antrinken - doch dann wirbelte ich zusammen mit Yelena ausgelassen über die Tanzfläche. Ich ließ mich sogar dazu hinreißen, Ty mit für mich überraschend aufreizenden Bewegungen anzutanzen, während meine Augen ganz offensichtlich mit ihm flirteten. Wie zu erwarten ging er voll darauf ein, sodass ich beim nächsten langsamen Lied dicht an ihn gedrückt in seinen Armen lag. Auch wenn es mir die Röte auf die Wangen trieb, genoss ich seine Nähe ...

Als das Lied zu Ende war und erneut schnellere Beats durch die Boxen dröhnten, hielt er mich noch für einen kleinen Augenblick so nah bei sich, ehe er sich sanft von mir löste und mir ein breites Grinsen schenkte. Nur, um dann in Richtung Bar zu verschwinden und uns neue Drinks zu besorgen. Missmutig stellte ich fest, dass er mit mir spielte. Er wollte darüber entscheiden, wie nahe wir uns kamen, wie der nächste Schritt aussah ... typisch Macho eben! Wenn er spielen wollte, bitte!

Den Rest des Abends ging ich kaum auf Tys Flirten ein. Stattdessen tanzte ich wieder viel mit Yelena, später am Abend wegen meines steigenden Alkoholpegels auch mit einem jungen, recht gut aussehenden Mann. Sein Name ging in der lauten Musik unter, doch das war mir egal. Ich erreichte, was ich wollte. Kaum hatte er seine Hände auf meine Hüften gelegt, trat Ty zu uns - scheinbar hatte er mich beobachtet.
„Sorry, aber das ist meine Lady!", brüllte er gegen den hämmernden Bass der Musik an und zog mich sogleich besitzergreifend an sich. Lachend schüttelte ich den Kopf und beugte mich zu Tys Ohr, um nicht zu sehr schreien zu müssen.
„Deine Lady also ... gut, dass ich da noch ein Wörtchen mitzureden habe!"

Und dann ließ ich ihn einfach stehen. Es war eh schon spät, Yelenas Füße schmerzten und wir hatten noch etwa eine halbe Stunde Heimweg, da der Club etwas außerhalb von London lag. Später, als wir zu dritt im Taxi saßen und die Müdigkeit langsam das Adrenalin besiegte, wunderte ich mich über mein Verhalten.

Normalerweise hätte ich mich nie auf solch ein Spiel eingelassen. Weil ich nie den Mut dazu gefunden hatte. Weil es gefährlich sein konnte, mit dem Feuer zu spielen. Doch Ty schien mein Verhalten zu gefallen. Seine Hand ruhte während der ganzen Fahrt auf meinem Oberschenkel, besitzergreifend ...

Normalerweise hätte ich das nicht zugelassen, hätte seine Hand weggenommen und ihm klar gemacht, dass ich keine dieser Frauen war, die sich auf so etwas einließen.

Normalerweise ...

Doch seit meiner Ankunft in London war nichts mehr normal. Falsch ... seit ich Tom kennen gelernt hatte ... seitdem stand meine Welt Kopf, mit jedem Tag mehr und unabänderlicher ...



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Remember When It Rained | Tom HiddlestonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt