Leah landete kaum eine Sekunde nach dem Raumsprung aufrecht stehend. Sie realisierte allerdings erst zwei weitere Augenblicke später, dass sie sich in ihrem eigenen Zimmer befand. Sie drehte sich einmal um sich selbst, sah den großen weißen Wandschrank, ihre Kommode, auf der allerlei Krimskrams herumlag und die vielen Fotos mit ihren Freunden und von schönen Urlaubsmomenten an der Wand neben ihrem Bett. Dort hingen auch herausgerissene Seiten aus Modemagazinen und Beautyzeitschriften. All die wunderbaren Luxusklamotten und -artikel, die sie sich nicht selbst leisten konnte, waren dort zu finden.
Die ganze Umgebung, die ihr sonst so vertraut war, wirkte heute irgendwie surreal auf sie. Als wäre dieser Raum, garnicht ihr Zimmer, sonder ein Abbild dessen, in dem irgendjemand etwas verändert hatte, von dem sie nicht wusste was es war.
Sie warf einen Blick auf ihre breite Armbanduhr, 14:30 Uhr.
Seufzend schmiss sie sich rücklings auf ihr großes, weiches Bett und legte sich eines der vielen kleinen Kissen auf den Bauch.
Wenn sie über das alles nachdachte, konnte sie nicht verstehen, wie sich ihr gesamtes Leben, von dem sie dachte mehr oder weniger genau zu wissen wie es verlaufen würde, schlagartig so verändern konnte.
Jetzt war ihre gesamte Zukunft merkwürdig ungewiss.
Das metallische Klirren von Schlüsseln und das Knarren der Haustür rissen sie aus ihren Gedanken. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett.
"Dad?", eigentlich konnte es niemand anderes sein, aber sie fragte sicherheitshalber trotzdem.
"Leah", rief dann ihr leicht irritierter Vater. "Ich wusste nicht, dass du zu Hause bist."
Leah schmunzelte. Natürlich wusste sie was er meinte. Normalerweise wäre sie um diese Uhrzeit mit Freunden in den angesagten Cafés und Bars der Stadt unterwegs, aber heute war es anders gekommen. Dass sie ihren Vormittag mit Hanteltraining auf einem außerirdischen Planeten irgendwo im Weltraum verbracht hatte, durfte ihr Vater aber natürlich nicht wissen.
"Ja Dad, ich-", kurz überlegte sie was sie sagen sollte, "mir geht's heut' nich' so gut." Das war zwar nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht wirklich falsch.
"Na dann mach' ich dir mal schnell einen heißen Tee, dann geht es dir bald besser." Leah musste lächeln, so war ihr Vater, so war er immer gewesen. Eben der beste Dad der Welt.
Sie hörte wie er seine Jacke auf einen Bügel aufhang, die Schuhe auszog und dann in die Küche ging.
"Wie kommt es eigentlich, dass du schon zu Hause bist, Dad?", rief sie dann hinunter und setzte sich wieder aufs Bett.
Das Geräusch von sich öffnenden Schränken und zu kochen anfangendem Wasser drang zu ihr, sodass sie fast nicht verstand, was er antwortete. "Ach, weißt du, heute ist so schönes Wetter, da dacht' ich, ich mache einfach mal eher Schluss." Ein kurzes Schweigen wurde vom Geräusch des Eingießens sprudelnden Wassers unterbrochen. "Sowas muss man als Chef auch mal dürfen."
Er kam zu ihr die Treppe hinauf und lächelte, als er sah wie sie mit dem blauen Kissen vorm Bauch auf dem Bett saß. Auch Leah lächelte und nahm dankbar den heißen Kamillentee entgegen, während ihr Vater sich setzte. Er hatte die selben hellgrauen Augen wie sie und die selbe schmale Nase. Und doch erkannte man erst auf den zweiten Blick, dass die beiden verwandt waren, ihr Dad hatte nämlich rotbraune Haare und das markante Kinn, das ihr fehlte.
Leah nippte an ihrem Tee und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Dad meinte immer ihre Mutter hätte genau die selben weißblonden Haare gehabt, nur sie selbst konnte sich garnicht an sie erinnern. Sie war gestorben, als Leah selbst erst zwei Jahre alt war, ganz plötzlich und unerwartet. Ihr Dad sprach so gut wie nie über sie, aber so wie er manchmal guckte, musste er sie sehr geliebt haben.
"Danke für den Tee, Dad"
"Für meine Prinzessin immer." Damit nahm er ihr die leere Tasse aus der Hand und küsste sie auf die Stirn.
"Wenn ich noch irgendetwas für dich tun kann, sag' bescheid, ok?"
"Ja, na klar."
Dann schloss er die Tür hinter sich und Leah hörte das Knarren seiner Schritte auf der Treppe.Marilyn stand binnen Sekunden wieder im Wohnzimmer des großen Hauses, das nur formal ihrer Tante gehörte. Um sie herum war alles dunkel, aber es war ja niemand da, der Licht hätte anmachen können.
Sie war allein.
Nur schemenhaft erkannte sie die Umrisse des Mobiliars, das einmal ihren Eltern gehört hatte.
Zielsicher ging sie zu einem der großen Fenster und zog das Rollo hoch, woraufhin sie von grellem Sonnenlicht geblendet wurde. Sie hielt sich schützend eine Hand vors Gesicht und ging dann zum nächsten Fenster.
Beim Blick auf die Uhr bemerkte sie, dass es erst 14:35 Uhr war und überlegte, was sie mit dem restlichen Tag anfangen sollte. Schließlich beschloss sie, nocheinmal Debussys Rêverie zu üben. Sofort stahl sich ein so seltenes, breites Lächeln in ihr Gesicht und sie lief freudig die vielen Treppenstufen hinauf in ihr Schlafzimmer, wo der alte Flügel stand. Fast schon zärtlich strich sie über den Deckel des ehrwürdigen Instruments und klappte ihn auf. Dann holte sie sich den kleinen Hocker heran und nahm Platz. Sie öffnete behutsam den Deckel, doch dann hielt sie inne.
Was die anderen wohl gerade machten?
Sie saß hier und war kurz davor ihr neues Lieblingsstück zum wahrscheinlich hunderststen Mal zu spielen, mittlerweile konnte sie es auswendig, aber es war noch nicht perfekt. Klavierspielen war ihre große Leidenschaft, jedoch konnte es ihr nicht die fehlende Familie und Geborgenheit ersetzen.
Emma hatte eine große Familie, sie war wahrscheinlich nie wirklich allein. Mutter, Vater, vier Geschwister - wie schön musste es sein von so vielen Menschen umgeben zu sein, die einen liebten. Wehmütig berührte sie den ovalen Kettenanhänger, der an einer feinen Silberkette um ihren Hals hing. Kurz wurde ihr Blick trüb und schweifte zu der kahlen Stelle an der Wand gegenüber des großen Bettes.
Susan hatte ihre Mom und Clara. Ihre Eltern waren zwar geschieden, aber auch sie hatte eine liebende Familie. Marilyn war manchmal neidisch darauf, dass Sue so eine enge Vertraute an ihrer Seite hatte mit der sie alles teilen konnte, vor der sie nichts verbergen musste. Vor einer Schwester musste man keine falsche Stärke zeigen.
Und Leah, Leah hatte ihren Vater, von dem sie alle wussten, dass er seine Tochter mehr liebte als sein eigenes Leben.
Sie schüttelte den Kopf und kehrte zum Klavier zurück. Sie nahm einen tiefen Atemzug und fast hätte ihr Finger die Taste berührt und in ihrer Vorstellung war der Ton bereits erklungen doch ihre Gedanken hingen immer noch an dem Thema.
Seit ihrem zehnten Lebensjahr war sie eine Waise. Der tragische Autounfall ihrer Mutter hatte ihr ganzes Leben aus den Fugen geraten lassen. Nach zwei Wochen Koma war sie gestorben. Und hatte Marilyn einfach zurückgelassen.
Doch sie war nicht mehr dieses kleine Mädchen. Vielleicht war sie allein, aber sie war nie einsam.
Kurz darauf ertönte Debussys träumerische Melodie und die sanften Klänge hallte durch das ganze Haus.
Marilyn hatte die Augen geschlossen und lächelte während eine Träne über ihre Wange rollte.

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Guardians
ParanormalDie vier Freundinnen Susan, Emma, Leah und Marilyn haben mit den alltäglichen Problemen typischer Jugendlicher zu kämpfen, als ein Ereignis ihr Leben schlagartig verändert... Sie werden zu Guardians, zu Beschützern der Welten. Ausgestattet mit der K...