Kurz bevor sie am späten Nachmittag den Hafen erreichten, weckte Eleasar seine Frau. Verschlafen blinzelte Ria aus dem Fenster. „Das ist nicht der Hafen, in dem wir gestern waren."
Sacht strich er ihr die Haare ein Stück zurück. „Nein, das hier ist der Nordhafen." Auf ihren fragenden Blick hin erklärte er ihr, dass die kaiserliche Hauptstadt, in der sie lebten, auf einer Insel lag. Diese Insel war umgeben vom Sternenmeer, das seinen Namen seiner Form zu verdanken hatte. Umrandet wurde es seinerseits von den Ländern, die der Kaiser zur Verwaltung in die Hände der ihm untergebenen vier Könige gegeben hatte. „Wir wohnen im Süden der Stadt. Da unser Ziel Sems Hauptstadt ist, ist der Seeweg vom Nordhafen aus kürzer."
Sem war einer der vier Könige und herrschte, soweit Ria informiert war, über das westliche Gebiet. Außerdem war er derjenige, der sie als Grund angeführt hatte, um gegen Eleasars leiblichen Vater, König Marjan, Krieg zu führen. Die Sache war vorm Kaiser gelandet, der Marjan letztendlich im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung seine Unterstützung zugesichert hatte.
„Hast du schon etwas wegen der Sache mit Suzi gehört?", fragte sie unsicher. Sie wusste noch immer nicht ganz, was sie von der Geschichte halten sollte. Sem hatte die rothaarige junge Frau, die eine verblüffende Ähnlichkeit zu ihrem Vater aufwies, zu dem Treffen beim Kaiser mitgebracht. Dort erst hatte Ria erfahren, dass sie angeblich eine Schwester hatte. Zu gerne hätte sie es rundweg abgestritten, doch das Mädchen war ihrem Vater nun mal wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Die Nachricht sollte uns spätestens in der Hauptstadt erreichen."
Damit war die Sache für Ria abgehakt. Sie schloss kurz ihre Augen, um ihre Lebensgeister zu wecken, dann grinste sie ihre ihr gegenüber sitzende Freundin unternehmungslustig an. „Meinst du wir finden hier nochmal so leckeres Eis?"
Adele wurde blass. „Nicht, wenn uns wieder jeder anstarrt. Da bleibe ich lieber bei meinen Keksen."
Bevor Ria ihre Freundin zu einem Ausflug überreden konnte, sprang Aram ein. „Wir werden nicht viel Zeit haben, da die Fähre bald ablegt. Der Hafen wird abgesperrt sein."
Bedauernd betrachtete sie die vorbeiziehenden Läden und kleinen, einladenden Gassen. „Dann werde ich mich irgendwann alleine inkognito einschleichen müssen. Schade eigentlich."
Am Dock hielt die Kutsche schließlich an. Ungeduldig, wie sie war, war Ria die erste, die heraussprang, als die Tür geöffnet wurde. Der Hafenmeister starrte sie überrascht an. Er hatte damit gerechnet, zuerst den kaiserlichen Gesandten zu treffen und keine übermütige junge Frau.
Eleasar folgte ihr auf den Fersen und begrüßte den perplex wirkenden Mann. Innerlich lächelnd stellte er ihm seine Frau und seine Begleiter vor. Ihm war schon aufgefallen, dass Ria ihren ganz eigenen Eindruck auf Fremde machte. Wie genau sie das zustande brachte und woran das geknüpft war, hatte er noch nicht herausfinden können. Kurz darauf hatte sich der kleine rundliche Mann wieder gefangen und begleitete sie das letzte Stück zur Fähre, wobei er unablässig auf Eleasar einredete.
Ria hatte schnell genug gehört. Der Kerl redete von irgendwelchen uninteressanten Entwicklungen und Plänen. Missmutig musterte sie die adrette Reihe an Soldaten, die in ihren prachtvollen Uniformen die Leute davon abhielten, sich ihnen zu nähern. Was Adele wie ein Segen erscheinen musste, kam ihr vor wie ein Fluch. Sie wollte keine Sonderbehandlung, nur weil sie durch ihren Mann Teil der kaiserlichen Familie war. Sie war doch auch nur eine von vielen.
Aufmunternd hakte Adele sich bei ihr unter. „Du kannst doch jederzeit her kommen. Aram sagt, Zagora ist eine wirklich schöne Hafenstadt. Ein wenig wie Venedig."
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Grau wie der Sturm [Schattenseelen 3]
FantasyDer dritte Teil der Schattenseelen-Reihe Nachdem Ria an der Seite ihres Mannes nach Anderswelt zurückgekehrt ist, steht sie vor bislang ungekannten Problemen. Nun muss sie sich, allen Widrigkeiten zum Trotz, in einer neuen Welt zurechtfinden. Dass s...