Als Eleasar am nächsten Morgen aufwachte, war die andere Betthälfte leer. Verwundert betrachtete er das gemachte Bett. Das sah seiner Frau gar nicht ähnlich. Normalerweise liebte sie es, lange im Bett zu liegen. Irritiert sah er im Nebenraum nach. Auch im Badezimmer war keine Spur von ihr zu finden. Das einzig von ihr Auffindbare, war ihr Koffer. Ob sie schon frühstücken war? Er wollte es nicht grundsätzlich ausschließen. Wenn er ehrlich war, hatte er gehofft, noch ein wenig Zeit mit ihr verbringen zu können. Sie mussten reden. Und zwar dringend. Nicht sonderlich begeistert schickte er sich an sie zu suchen.
Unten traf er jedoch lediglich auf Aram, der gerade für seine schwangere Frau Frühstück bestellte. „Hast du Ria gesehen?"
Aram verneinte. „Sie hat sich gestern so merkwürdig benommen. Vielleicht ist sie an die frische Luft gegangen."
Eleasars Miene verfinsterte sich augenblicklich. „Hoffentlich macht sie keine Dummheiten." Er wollte raus gehen, da fiel ihm die zögerliche Haltung seines Freundes auf. „Gibt es noch etwas?"
Er nickte leicht. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe Ria nicht oft genug beobachtet, um eine qualifizierte Einschätzung abgeben zu können, aber ich hatte den Eindruck, dass sie in einem Gefängnis gelebt hat. Vielleicht braucht sie nun eine Auszeit." Auf einen Tisch deutend forderte er seinen Freund auf, sich zu setzen. „Sie kommt bestimmt wieder zurück."
Aram hatte recht. Er sollte ihr die Zeit geben, die sich brauchte. Wenn Frauen aufgewühlt waren, konnten sie unberechenbar sein. Allen voran die seine.
Doch Ria tauchte nicht auf. Selbst als Adele ihr Frühstück beendet hatte, war von seiner Frau noch immer keine Spur zu sehen. „Ich geh sie suchen", verkündete die Blondine plötzlich. „Sie ist meine beste Freundin. Vielleicht bedrückt sie etwas, das sie lieber mir sagt als einem von euch."
Aram nickte und überredete Eleasar, wenigstens noch eine halbe Stunde im Gasthaus zu warten. Vielleicht hatte Adele ja tatsächlich Glück und fand sie.
Zehn Minuten später hatte Adele Ria gefunden. Sie lag am Seeufer, in den rauchigen Körper ihres Schattendrachen geschmust und schien zu schlafen. „Ria?" Unter den wachsamen Augen des Geisterwesens strich Adele ihr vorsichtig eine schwarze Haarsträhne nach hinten.
Langsam drehte die junge Frau den Kopf in Adeles Richtung. „Hallo. Gut geschlafen?" Ihre Stimme klang leicht kratzig. Ob das an mangelndem Schlaf lag oder an etwas anderem, konnte Adele noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie war jedoch entschlossen, es herauszufinden.
„Ich schon." Vorsichtig ließ die Blonde sich ins trockene Gras sinken. Eingehend musterte sie ihre unendlich müde wirkende Freundin. „Du hast ganz tiefe Ränder unter den Augen. Magst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?"
Ria blinzelte einige Male, sagte aber nichts. Adele musste genauer hinsehen um zu bemerken, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Oh Ria." Tröstend zog sie sie in ihre Arme. „Mensch, was ist los? Bitte rede mit mir."
Nun stahlen sich einzelne Tränen ihre Wangen hinunter. „Ich möchte zurück. Nach Hause."
Nachdenklich kämmte Adele mit den Fingern durch Rias glattes Haar. Ihre Freundin so aufgelöst zu sehen, machte ihr zu schaffen. Ria war doch sonst immer die Starke. „Du hast bestimmt kein Heimweh. Also, was ist wirklich los?"
Sie wischte sich mit seltsam fahrigen Bewegungen die Tränen aus den Augen und flüsterte kraftlos: „Ich will weg von Elea."
Schockiert drückte Adele sie an sich. „Was hat er dir angetan?" Das alles war so untypisch für ihre Freundin. Der Prinz musste etwas gesagt oder getan haben, das sie dermaßen fertig machte.
„Nichts. Also noch nichts." Sie schluckte schwer, bevor sie mit der Sprache rausrückte. Ihre Stimme war nicht mehr als sein beinahe tonloses Krächzen. „Ich weiß, dass ich es gestern wirklich übertrieben habe, aber das ist doch noch lange kein Grund, mir verbieten zu wollen, Spaß zu haben. Ich klettere nun mal gerne und genieße es Dinge zu tun, ohne vorher gründlich darüber nachzudenken. Er droht mich einzusperren, sollte ich so etwas noch einmal tun."
„Er macht sich doch nur Sorgen um dich. Sieh mal, Aram und ich leben seit fast drei Jahren zusammen. Ich bin quasi bei ihm eingezogen, nachdem ich ihn kennengelernt habe. Wir hatten auch unsere Differenzen. Meinst du nicht, dass sich das wieder legt?" Tröstend drückte Adele ihre am Boden zerstörte Freundin an sich. Sie glaubte keinen Moment daran, dass der Prinz sie einsperren würde. Dafür liebte Eleasar seine Frau viel zu sehr.
„Er versucht auch, mir meine Freiheit zu nehmen", flüsterte sie erstickt. „Ich kann das nicht Adele. Ich kann nicht noch einmal mit jemandem zusammen sein, der mich nicht nehmen kann, wie ich bin."
„Aber er liebt dich", rief sie verzweifelt. „Ria, er liebt dich mehr als alles auf der Welt. Und das tust du auch."
Die Schwarzhaarige lächelte schwach. „Liebe ist aber nicht alles. Nicht für mich." Langsam rappelte sie sich auf. „Bist du so gut und tust mir einen Gefallen?"
Eine schlimme Ahnung beschlich Adele, als Ria ihr etwas in die Hand drückte. „Sag ihm, dass es mir leid tut. Und dass ich ihn liebe."
Sie sprang auf und rannte in den Wald davon. Kurz darauf stieg in der Ferne ein geflügeltes Wesen in die Luft. Es tut mir so leid. Das war die letzte Nachricht, die Ria ihrem Liebsten schickte.
Kraftlos starrte Adele auf die Stelle, an der Ria im Wald verschwunden war. Kurz darauf kniete Aram sich neben sie. „Was ist passiert?"
Schluchzend lehnte sie sich an ihren Mann. „Sie ist weg." Sie gab ihrem Mann den Ring. „Ich soll Eleasar sagen, dass sie ihn liebt und ihm den hier geben."
Mit verschlossener Miene nahm Eleasar seinem besten Freund den Ring aus der Hand. Er hatte Aram begleitet, als der seine Frau nicht länger alleine lassen wollte. „Geht nach Hause. Ihr könnt hier nichts ausrichten."
Aram sah zu seinem Freund und Cousin auf. „Was willst du tun?"
Der ballte die Hand mit dem Ring zur Faust. „Meinen Auftrag erfüllen. Für euch gibt es keinen Grund mehr mitzureisen. Bring deine Frau nach Hause, sie hat Ruhe bitter nötig."
Anklagend sah Adele zu ihm auf. „Du kannst sie nicht einfach gehen lassen. Vielleicht kannst du sie noch einholen."
Stoisch schüttelte er seinen Kopf. „Wenn du Flügel hast, vielleicht. Ich habe von keinem Wesen gehört, das schneller fliegt als ein Drache."
„Aber sie will doch nicht gehen." Adele wischte sich die Tränen aus den Augen und starrte Eleasar auffordernd an. „Sie geht nur, weil sie nicht wieder eingesperrt werden will."
„Das geht dich nichts an", blockte er ihre Vorwürfe scheinbar emotionslos ab und verschwand.
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Grau wie der Sturm [Schattenseelen 3]
FantasyDer dritte Teil der Schattenseelen-Reihe Nachdem Ria an der Seite ihres Mannes nach Anderswelt zurückgekehrt ist, steht sie vor bislang ungekannten Problemen. Nun muss sie sich, allen Widrigkeiten zum Trotz, in einer neuen Welt zurechtfinden. Dass s...