.:46:. Empfindsamkeit

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Es stellte sich heraus, dass Camille und Yanis es tatsächlich auf Ria abgesehen hatten. Kaum war die Nachricht bekannt geworden, dass sie für den Verrat ihr Leben lassen mussten, war Adele am Boden zerstört. Ria hingegen nahm es um einiges besser auf. Das lag vermutlich daran, dass sie einerseits damit gerechnet und andererseits von Blake vorgelebt bekommen hatte, dass ein solches Verhalten nun mal mit dem Tode bestraft wurde.

Je näher der Termin der Hinrichtung kam, desto blasser und unbeteiligter wurde Adele und desto weniger hielt Ria es in ihrer Nähe aus. Es passte einfach nicht, dass ihre Laune von Tag zu Tag euphorischer wurde, während Adele in einer Art Teilnahmslosigkeit versank.

War Adele traurig, war Aram sauer. Er konnte es seinen Eltern nicht verzeihen, dass sie aus niederen Gründen seine fünfjährige Schwester im Stich ließen. Er nutzte die verbleibende Zeit, um seinen Frieden mit der Sache zu schließen. Marjan erklärte sich zu seiner Erleichterung dazu bereit, seine Nichte aufzuziehen. Wahrscheinlich hatte Sara ihn dazu überredet. Damit Cian nichts von der angespannten Stimmung seiner Eltern mitbekam, verbrachte er viel Zeit bei Ria und Eleasar. Letzterer war damit mehr als zufrieden, denn das bedeutete, dass seine Frau zu tun hatte und die Gefahr, dass sie vor Langeweile leichtsinnige Dinge tat, sehr gering war. Auf ihren Neffen aufzupassen, forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit.

Am Stichtag herrschte eine äußerst bedrückte Stimmung. Ria hatte die Nacht über fast gar nicht geschlafen und war dementsprechend unruhig, fahrig und genervt. Adele war so weiß, als hätte sie einen Geist gesehen. Selbst Eleasar und Aram versuchten nicht wie sonst ihre Frauen aufzumuntern. Aram hielt sich zurück, weil er nicht wusste, was er sagen sollte und Eleasar, weil ihm sein Leben lieb war. Ria hatte ihn schon am Morgen mehrfach grundlos angefahren. Es frustrierte sie über die Maßen, dass sie sich nur noch sehr eingeschränkt bewegen konnte. Zudem konnte sie sich dank ihres Wesens nicht vollständig dem Einfluss der vorherrschenden Emotionen und Spannungen erwehren. Da war es besser, sie ihrer eigenen schlechten Laune zu überlassen.

Die Hinrichtung an sich war absurderweise ein gesellschaftlicher Anlass. Jeder der Rang und Namen hatte erschien, um sich von den Taten der Verurteilten zu distanzieren. Ria konnte spüren, dass viele nur hier waren um Loyalität zu heucheln und der Sensation zu frönen. Ihr wurde nur noch schlechter zumute. Dabei war sie erst seit zwei Minuten auf der Tribüne, die der kaiserlichen Familie vorbehalten war und einen ausgezeichneten Blick auf den darunter liegenden Schauplatz bot. Sie saß auf einem extra für sie bereitgestellten Stuhl am rechten Rand des Balkons. Eleasar stand zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken standen Isla und Raphael. Dahinter befanden sich die anderen Anwärter auf den Kaiserthron. Ihr wurde leicht schummrig, als sie ihren Blick über die unbewegten Mienen ihrer Gesellschaft wandern ließ. Das hier entwickelte sich noch zu ihrem persönlichen Horrortrip. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an ihren Mann, der mit besorgter Miene dicht neben ihr stand. Am liebsten hätte er sie wieder ins Bett gesteckt. Das war nichts, was sie sich in ihren Umständen antun sollte. Gib mir bitte Bescheid, wenn dir schlecht wird. Es bringt nichts, wenn du hier umkippst.

Undeutlich brummte sie ein paar Worte in seine Jacke. Es ging ihr wirklich nicht gut. Sie fühlte sich schrecklich müde und abgespannt - die letzten unruhigen Nächte forderten nun ihren Tribut.

Ria spürte die Menge den Atem anhalten, als Camille und Yanis nach draußen gebracht wurden. Ungefiltert kroch ihr die Anspannung ihrer Umgebung unter die Haut. Krampfhaft klammerte sie sich an Eleasars Hand, um nicht doch noch umzukippen. Diese Atmosphäre war schier unerträglich!

Sanft strich seine warme Hand über ihre Stirn und ihren Nacken. „Bist du dir sicher, dass du das überstehst?", erkundigte er sich besorgt.

„Ich muss", flüsterte sie atemlos. Tapfer starrte sie auf die Bande vor sich. „Solange ich sitze, ist es glaube ich okay." Schon während sie das sagte, tanzten schwarze Flecken von ihren Augen.

Grau wie der Sturm [Schattenseelen 3]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt