5.03 Uhr

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„Ich glaube, wir sollten erst einmal nach Hause gehen. Zurück in unser altes Leben. Zu unseren Freunden. Unserer Familie. Und das Leben leben, das wir hatten. Vor dieser Nacht."

Stumm schaute er mich an. Kein Wort kam über seine Lippen. Unverwandt schaute er mich an. Versuchte, irgendwie irgendwo nach einer versteckten Antwort zu suchen. Nach einer Hintertür, die es nicht gab. Die ihm die Antwort gab, die er eigentlich hatte hören wollen. Er öffnete den Mund. Wollte etwas sagen. Schloss ihn wieder. Hob den rechten Arm. Fuhr sich durch die Haare. Wieder einmal in dieser Nacht. Es war eine süße Geste. Weil ich die gleiche Angewohnheit hatte.

„Du hast ein Tattoo." Ich deutete auf seinen Unterarm. Es war so groß und markant, ich fragte mich, wie ich es die ganze Zeit hatte übersehen können.

Er nickte. Streckte mir den Arm hin.

Andächtig strich ich über die dunkle Tinte. Jetzt erkannte ich es. Jesus am Kreuz. Auf seinem muskulösen, sehnigen Unterarm. Was ihn dazu bewegt hatte? Welche Geschichte dahintersteckte?

„Steckt eine Bedeutung dahinter?"

„Ja. Es steht für Familie. Gesundheit. Glück." Er sprach leise. Schaute ebenfalls auf sein Tattoo. Nicht zu mir. Nicht mehr.

„Warum hast du es dir stechen lassen?"

Er schüttelte den Kopf. Schaute auf. An mir vorbei. In weite Ferne. „Das hat hier im Moment nichts zu suchen."

Ich schluckte. Wegen mir. Wegen dem, was ich gesagt hatte. Nur deshalb blockte er ab.

„Bist du gläubig?"

„Ja. Ich wurde so erzogen. In dem Glauben. Da ist dann auch etwas an mir hängen geblieben." Er lächelte. Ein klein wenig. Schaute mich wieder an. „Wie sieht es da bei dir aus?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Ich wurde auch nicht so erzogen. Der Impuls hat gefehlt, der mich zur Kirche bewegt hätte. Irgendetwas kam immer dazwischen. Und von meinen Eltern kam auch nichts in diese Richtung."

„Ja. Wenn man es nicht mit ganzem Herzen will..."

„...dann fällt es schwer, das Ziel zu verfolgen", vervollständigte ich seinen Satz. Leise. Respektvoll. Ich wollte ihn nicht verletzen. Nicht noch einmal.

Erik nickte. Schaute wieder an mir vorbei.

Ich konnte seine Mimik nicht deuten. War er nur nachdenklich? Oder steckte mehr dahinter? Bestimmt. Aber was dachte er sich dabei? Wie konnte ich es ihm zeigen? Dass es nicht so war, wie es aussah. Dass er nicht aufgeben sollte.

„Ich mag es, überrascht zu werden", sagte ich leise.

„Was?"

„Überraschungen. Da steh ich echt drauf." Ich lächelte. Wollte ihm so einen Hinweis geben. Hoffte, dass er ihn verstand. Hoffte, dass ich das Richtige tat. Ihm das richtige Signal gab. Und es hinterher nicht bereuen würde.

„Wer mag das nicht?" Er lachte auf. Gezwungen.

„Keine Ahnung. Da soll es durchaus Leute geben." Ich zuckte mit den Schultern. Lächelte ein wenig. Ganz leicht.

„Warum willst du dann zurück in dein altes Leben?"

„Weil es das Beste ist. Was wäre, wenn du wieder Zuhause bist und merkst, dass unsere Welten nicht zusammenpassen würden?"

„Das kannst du so nicht sagen. Das kannst du erst wissen, wenn du es ausprobiert hast", widersprach er mir.

„Meinst du?"

Er lächelte. Er wirkte wieder lockerer. „Ich hab da glaube ich ein bisschen mehr Erfahrung als du."

„Da hast du wahrscheinlich Recht", lachte ich. „Was rede ich da überhaupt? Wenn ich doch keine Ahnung von alledem hab?"

„Wenn ich dich noch etwas anderes fragen darf, warum bist du überhaupt mit Simon hierhergekommen?"

„Hab ich doch schon gesagt, er hat mich dazu überredet." Ich machte eine kurze Pause. Runzelte die Stirn. Die Worte meiner Eltern kamen mir wieder in den Kopf. „Naja, und ich soll aufpassen, dass er keine komische Tussi mit nach Hause bringt. Meine Eltern finden das nicht ganz so lustig."

Erik lachte. „Das kann ich mir vorstellen. Würde ich auch nicht so toll finden."

„Nee, überhaupt nicht. Ich fand das die letzten paar Male auch nicht gerade besonders lustig."

„Ach, du hast das schon miterlebt?"

„Live und in Farbe. Jedes Mal ein neues Drama. War das ein oder andere Mal schon fast filmreif. Hollywood müsste doch eigentlich schon schlangestehen", erwiderte ich trocken. Warf dann einen kurzen Blick zurück. Über meine Schulter. Zu dem Haus. „Wie lange gehen eure Partys hier?"

„Normalerweise nicht mehr besonders lang. Im Morgengrauen gehen die meisten wieder nach Hause."

„Sobald die Nacht endet ist es vorbei."

Erik nickte. Wortlos. Das Lachen war von seinen Lippen verschwunden. Er hatte die Doppeldeutigkeit meiner Worte gehört. Verstanden. Auch wenn sie nicht beabsichtigt waren. Nicht wirklich. Nicht in diesem Sinne. Nicht unbedingt. Aber ich hatte keinen Mut, sie zu korrigieren. Er fehlte mir. Wie schon so oft.

Er öffnete den Mund. Schien etwas sagen zu wollen. Zögerte.

Ein anderer kam ihm zuvor. Eine Tür schlug zu. Die Tür in den Garten. „Lu... Luisa, da bist... bist du ja."

Schnell hatte ich mich herumgedreht. Erblickte meinen Bruder. Wankend kam er auf mich zu. Betrunken. Anders hatte ich es aber auch nicht erwartet. Ich hatte damit gerechnet. Er schockte mich nicht. Es war nicht das erste Mal.

„Luisa?" Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Erik mich an.

Lachend hob ich die Hände. „Erwischt."

Weiter ging ich nicht auf ihn ein. Ich stand auf, ging auf meinen Bruder zu. Der noch immer gefährlich schwankte beim Gehen. Im Moment war er wichtiger. Ihn musste ich heil nach Hause bringen.

„Lu... Luisa. Wir können... jetzt nach... nach Ha.. Haus... also fahren", lallte Simon. Hielt sich an meiner Schulter fest. Um nicht zu fallen. Wodurch er mich auch kurz aus dem Gleichgewicht brachte. Immerhin war er einen Kopf größer als ich.

Bei seiner Alkoholfahne verzog ich kurz das Gesicht. Aber er war mein Bruder. Er war für mich da. Und ich für ihn. Egal, ob er besoffen war oder nicht. Ich liebte ihn. Meinen Bruder.

Ich schaute noch einmal zu Erik. Bei seinem Blick hatte ich ein komisches Gefühl in der Magengegend. Ich konnte es nicht deuten. War es gut? War es schlecht? Was wollte es mir sagen? Was wollte er mir sagen? Ich wusste es nicht. Vielleicht würde ich es irgendwann herausfinden. Vielleicht aber auch nicht.

„Ja, wir können", sagte ich mit einem Lächeln in Eriks Richtung.

Hinter ihm gerade die Sonne auf. Verdrängte die Schwärze der Nacht.


Und Wenn Die Nacht Endet (Erik Durm)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt