Prolog

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"Geht solange ihr noch könnt! Ihr müsst das Land verlassen. Geht durch die grosse Wüste in ein friedliches Land. Vertraut euch nur einem einzigen Menschen an, der für euch sorgen soll." Ich war geschockt. Mein Hirn konnte nicht verarbeiten, was tatsächlich geschah. Es hatte schon seit geraumer Zeit in der Gerüchteküche gebrodelt und die Differenzen zwischen meinem Vater und seinem Bruder bestanden auch schon lange. Aber ich wollte nicht glauben, dass dieser Mann kaltblütig die Macht meines Vaters an sich reissen will, egal zu welchem Preis.
"Und was ist mit dir, Vater? Du musst auch hier weg! Wir waren zu unvorbereitet auf den Überfall. Terken wird dich schlachten, wenn er dich findet!" Meine Schwester zitterte neben mir und ich versuchte meine eigene Angst zu unterdrücken. "Nein, ich muss hierbleiben und mein Volk führen", meinte mein Vater, "Nehmt diesen Brief und gebt ihn der von euch auserwählten Vertrauensperson. Geht jetzt! Schnell!" Mit einer hektischen Handbewegung scheuchte mein Vater mich und meine Schwester fort. Mein letzter Blick in seine Augen beunruhigte mich. Seine Augen waren voller Schmerz.
Meine Schwester und ich wussten nun, dass wir fliehen mussten um zu überleben und dass Vater nicht mitkommen würde. Wir rüsteten uns eilig mit Waffen, Wasser und Kleidung. Unsere Pferde liessen wir im Stall, da sie nur auffallen würden und in der Wüste Wasser benötigen würden. Kamele gab es erst ausserhalb der Stadt bei den Karawanen. Meine Schwester hatte sich gefasst und wir schafften unsere Sachen in Windeseile zusammen. Genug lange hatten wir zusammen trainiert und kannten den anderen in seinen Bewegungen. Wir liessen unsere Gemächer hinter uns und rannten durch den Boteneingang aus dem Palast. Gerade rechtzeitig, denn es erschütterte ein unglaublicher Lärm das Schloss. „Sie müssen das Haupttor zerstört haben", sprach meine Schwester meinen Gedanken aus. Ich nicke nur kurz. Im gleichen Moment beschleunigten wir beide nochmal unseren Schritt. Wir rannten durch den paradiesischen Garten unserer Kindheit. Wie oft wir unter den Magnolienbäumen gespielt und gezankt hatten. Jetzt rief der Süsse Geruch der Blüten ein unheilvolles Gefühl hervor. Es war nicht mehr weit. Wir waren beinahe am Ende des Gartens und müssten nur noch um die Ecke biegen für das Tor zur Stadt.
Es krachte ein weiteres Mal, diesmal jedoch in unmittelbarer Nähe. Wir rannten um die letzte Ecke und geradewegs in die Arme einer Truppe von Terken. Sie hatten auch dieses Tor durchbrochen und versperrten uns den Weg zur rettenden Freiheit. Die Truppe von etwa zwei dutzend Männern erkannte uns sofort und umkreiste uns. Ich schiebe meine Schwester hinter mich, um sie zu verteidigen. Mir war jetzt schon klar, dass wir kaum eine Chance hatten aus den Fängen der Truppe zu kommen. Dennoch versuchte ich sie erst mit Worten zu beschäftigen. "Was wollt ihr von uns?", warf ich ihnen entgegen. Ein breit gebauter Krieger lachte und es hört sich an wie eine Lawine: "Wir wollen eure Köpfe zu Füssen von Terken legen und triumphiern!" Mit diesen Worten greifen sie uns an. Ich werfe mich ins Getümmel, um von meiner Schwester abzulenken. Die Schläge der Waffen sind hart, aber die Krieger selbst nicht wendig. Ich schlage und schneide um mich und verteidige uns mit meinem Langschwert. Meine Schwester hat ihre geliebten Dolche gezogen und hält mir den Rücken frei. Wir sind zu einer Person verschmolzen. Doch auch die Krieger waren nicht dumm und reagierten geschickt auf unsere Techniken. Sie schafften es uns zu trennen. Ich tobte und lenkte die Aufmerksamkeit auf mich. Ich bemerkte im Augenwinkel wie meine Schwester die Chance hatte zu fliehen. "Lauf, Amira! Lauf!", schrie ich ihr zu. Plötzlich wurde sie blass und schrie auf: "Nein, Rayhan!". Erst jetzt bemerkte ich den rasenden Schmerz in meiner Seite. Ich schlug noch einige Male um mich, damit sie mehr Zeit hatte. Dann liessen meine Knie unter mir nach. Ich sah wie sie sich langsam fortbewegte und sich schon einige Leute von Terken ihr nachsetzten. Ich wollte ihr noch einmal zuschreien, dass sie jetzt rennen musste, aber es kam nur ein Gurgeln aus meinem meiner Kehle. Dann holte mich die erlösende Dunkelheit ein. Der süsse Magnolienduft trug mich zurück in den Schoss meiner Mutter. Geborgenheit.

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