Kapitel 6 / Melina's Sicht

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Winter by Daughter



Die Wohnungstür klemmte und erst nachdem ich mich ein paar Mal dagegen geworfen hatte konnte ich endlich unseren Flur betreten. Ich tastete nach dem Lichtschalter und und als ich schließlich die Taste gefunden hatte erkannte ich auch warum ich mich kaum durch die Tür quetschen konnte. Die Umzugskartons, die ich heute morgen sorgfältig übereinander gestapelt hatte, waren umgefallen und versperrten mir nun den Weg zu meinem Zimmer.

Genervt stöhnte ich auf. Ich war hundemüde und jetzt musste ich auch noch meinen Krempel wieder einsortieren. Der Tag konnte ja kaum noch beschissener werden.

Notdürftig schob ich alles zurück an die Wand und warf die Sachen, die aus den Kisten gefallen waren, achtlos wieder zurück. Es wurde echt Zeit, dass ich den Umzug so schnell es ging hinter mich brachte.

"Shirin?" Rief ich, aber da keine Antwort zurückkam war mir klar, dass meine Noch-Mittbewohnerin wohl nicht da war. Sie hatte mir vorhin noch geschrieben, dass sie ein Teil ihrer Sachen bereits rüber in ihre neue Wohnung fahren wollte. Mit Sicherheit waren sie dort noch zu Gange.

Immer noch vor mich hinfluchend kämpfte ich mir meinen Weg durch das Chaos zu meinem Zimmer. Ich wollte nichts sehnlicher, als endlich ins Bett zu kommen, bzw. zu meiner Matratze, denn sie war eine der wenigen Dinge, die sich noch in meinem Zimmer befanden. Nur der von mir demolierte Nachtisch und das kaputte Regal, was ich ebenfalls meiner Baukunst zu verdanken hatte, waren noch hier plus ein Karton mit Sachen, die ich für die letzten Nächte hier noch brauchen würde.

Mein Blick fiel auf die weiche und so unglaublich bequeme Matratze, doch mir war bewusst, dass wenn ich mich dort jetzt drauf fallen ließ, würde ich nie wieder aufstehen können. Also schlurfte ich ins Badezimmer und machte mich für die Nacht fertig.

...

"Ladekabel", murmelte ich vor mich hin. Hatte ich Vollpfosten das etwa schon in der Kiste verstaut? Na klasse Melina. 50 Punkte für deine absolute Verpeiltheit.

Ich durchkramte meinen Krempel und fand es tatsächlich am Boden der Kiste. Gerade wollte ich mich endlich auf meine lang ersehntes Bett werfen, als mir etwas ins Auge sprang. Eine meiner Platten war wohl im Laufe des Jahres irgendwie unter mein Regal gerutscht. Vorsichtig zog ich sie hervor und blies die dünne Staubschicht weg. Wie hatte ich sie nur vergessen können. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht und ich sprang auf. Seit einer Ewigkeit hatte ich diese Band nicht mehr gehört. Aber das sollte sich nun ändern.

Schnell war mein kleiner Koffer-Plattenspieler aufgebaut und die schwarze Scheibe begann sich zu drehen. Das vertraute Knacken war zu hören und ein paar Sekunden später erfüllte die Stimme von Elena Tonra den Raum. Ich schloss die Augen und ließ mich nach hinten auf das weiche Polster fallen. Die Melodien hatten etwas sehnsüchtiges und melancholisches an sich.

Erinnerungen kamen in mir hoch. Von meiner Heimatstadt Minde und meinen Freunden. Als das Album erschien, war es mein letztes Jahr an meiner Schule gewesen und trotz des Abistresses hatte ich ständig diese Lieder gehört.

Ich konzentrierte mich auf den Text und begann leise mitzusingen.



And we were in flames,

I needed, I needed you

To run through my veins

Like disease, disease

And now we are strange, strangers


Bilder schossen durch meinen Kopf und das Atmen viel mir schwer. Nein! Ich wollte jetzt nicht daran denken. Ich wollte nicht schon wieder diese Schmerzen fühlen, diese Hilflosigkeit, die seine Augen in mir auslösten.

Wir hatten uns verändert und nun erkannte ich ihn kaum wieder.

'Wir sind wie Fremde'. Daughter hatte es echt auf den Punkt gebracht und jetzt, wo ich diese Worte im Zusammenhang mit den Klängen der Instrumente hörte, wurde es mir erst so richtig bewusst.



It's different now, grey face

Eyes burnt out, flames are gone now

Gloves are on

I have a feeling, love's gone mad


Verdammt. Tränen liefen über meine Wangen und tropften auf mein Kissen. Früher hatte ich keine Ahnung, wie sehr diese Worte der Wahrheit entsprachen und nun lag ich hier und erkannte in dem ganzen Lied meine momentane Lebenssituation wieder.

Ich wusste nicht mehr genau, wann Shirin in mein Zimmer gekommen war. Mein Blick galt die ganze Zeit über der drehenden Platte, während ich zusammengerollt wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett leise schluchzte.

Sie hat mir die Haare aus dem Gesicht gestrichen und meinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Ihre pure Anwesenheit beruhigte mich bereits etwas, doch trotz alledem konnte sie die letzten Tage nicht ungeschehen machen. Ihr war bewusst, wie sehr mich die Ereignisse mitgenommen hatten und nun war sie bei mir, strich mir beruhigend durchs Haar und wartete, bis meine Schluchzer immer leiser wurden.



Oh winter, come

Oh winter, crush on

All the things that I once loved


Der Regen war stärker geworden und prasselte nun gegen die Scheibe. Das Lied klang langsam aus, bis schließlich erneut nur noch ein Knacken zu hören war.

Schweigend sah ich hoch an die Decke. Wieso musste eigentlich immer alles so verdammt kompliziert sein? Wieso musste es immer so verdammt weh tun.

"Es wird ihm bald wieder besser gehen. Wir dürfen ihn jetzt nur nicht fallen lassen", Shirins Stimme war sanft und ich nickte.

Langsam begann sich der Knoten in meiner Brust zu lösen und das Atmen fiel mir leichter.

Sie hatte recht. Er brauchte uns und wir durften ihn nicht alleine lassen.

Denn wenn die Kälte erst mal da war, würden wir alles verlieren. Ich würde Jan verlieren.



Freu mich wie immer über Favos und Kommentare, und danke an die Leser, die meine Geschichten mit verfolgen. Ihr seid echt die Besten ❤️

Fan Fact: Melina hört diese Band auch in Wirklichkeit gerne. Und nein, ich bin kein Stalker, ich hab nur genaustens recherchiert :D

Can you feel my heartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt