6.Kapitel

51 8 4
                                    

Noch während wir fielen, versuchte ich angestrengt, mein Bewusstsein wieder zu bekommen. Ich fühlte mich wie in der Mitte zwischen Leben und Tod. Auf der einen Seite war es einsam, kalt und schmerzhaft: Das Leben.
Auf der anderen Seite hingegen war es warm, herzlich und einladend: Der Tod. Ich schwebte genau in der Mitte, aufgehängt an zwei dünnen Fäden. Der eine, der hin zur Wärme und Liebe führte, zeriss, als ich in das eiskalte Wasser fiel.

Das hatte aber auch sein Gutes, denn ich konnte wieder etwas spüren und durch die Kälte entnebelte sich mein Gehirn. Ich konnte wieder klar denken. Ich wusste, dass ich jetzt eigentlich schwimmen sollte. Aber die Strömung war stark, das Wasser dreckig, weshalb ich auch nur braun sehen konnte. Und dann war war auch noch dieser Schmerz, so atemberaubend heftig... Nein! Ich durfte mich nicht dem Schmerz hingeben.  Jetzt hieß es kämpfen! Doch mein Vorsatz wurde zunichte gemacht, als ich auf den Grund des Flusses gewirbelt wurde und mir zum ersten mal in meinem Leben klar wurde, wie viel Kraft das Wasser wirklich hat. Scharfe Steine schliffen über mein Gesicht und schnitten es auf, aber ich spürte keinen Schmerz. Schließlich knallte ich mit Wucht an einen großen Stein, was mir gleichzeitig half, denn ich sammelte meine Körperteile und stoß mich mit beiden Beinen heftig ab.

Keuchend kam ich an die Oberfläche und schwamm wortwörtlich um mein Leben. Ich bekam einen großen Felsen am Ufer zu fassen und zog mich mit meiner letzten Kraft an Land. Aber ich konnte nicht lange Luft schöpfen, da mich eine neue Frage beschäftigte. Wo war Flynn? Wo waren die Verfolger? Und wo war ich?

Ich sah nach oben und erschrak. Ich saß in einer Schlucht, auf der einen Seite ragten moosbewachsene Felsen nach oben, auf der anderen Seite lehmiges Geröll. In der Mitte schlängelte sich ein Wildwasser - Fluss, mit einer starken Strömung und trüben Wasser. Ich saß jetzt auf glitschigen Steinen, die sich mehr oder weniger am Ufer befanden, trotzdem wurden sie teilweise noch umspült.

Hatte Flynn sich mit mir in seiner Verzweiflung etwa über zwanzig Meter in die Tiefe gestürzt? Ich sah Flynns Lächeln vor mir, sah seine unverfrorene Art, fühlte seine warme Hand, und mir wurde klar, dass ich das selbe getan hätte.

Aber wo war Flynn? Besorgt sah ich auf die Wasseroberfläche. Nichts außer die starke Strömung bewegte sich. Ich bekam Panik. Wenn er das jetzt nicht geschafft hätte, für mich gestorben wäre, würde ich mir nie verzeihen. Flynn hätte das Leben so viel mehr verdient als ich. Mit seiner unschuldigen und leichten Art konnte er sich alles nehmen, was er wollte, niemand war ihm böse, am Ende wurde es ihm sogar geschenkt.

Wie mein Herz.

Ich schluchzte auf und wollte gerade noch einmal in den Fluss steigen, als ich von hinten eine bekannte und erleichterte Stimme hörte: „Saliah? Oh zum Glück, endlich habe ich dich gefunden! Weißt du eigentlich, wie viel Angst du mir eingejagt hast, als du auf einmal von der Strömung weggerissen wurdest?" Mit diesen Worten rannte Flynn mich über den Haufen und umarmte mich heftig. Eigentlich wollte ich die Umarmung genießen, aber meine ganzen Wunden und Prellungen von dem unfreiwilligen Bad meldeten sich zu Wort. „Autsch!", entfuhr es mir gegen meinen Willen. Flynn entzog sich ruckartig aus der Umarmung, musterte mich. Dann malte sich Entsetzen auf seinem Gesicht breit: „Oh mein Gott, Saliah, was hast du gemacht?", fragte Flynn besorgt. Er streckte mit zögerlichem Gesichtsausdruck einen Finger aus und strich mir über mein Gesicht. Als er seinen Finger zurückzog, war dieser voller Blut. „Die Steine am Grund waren spitz", nuschelte ich. Unauffällig versuchte ich zu erkennen, ob auch er verletzt war, doch er sah aus wie immer. Nur nässer als sonst.
Flynn schien sich zu erinnern, dass ich vor kurzem noch völlig bewegungsunfähig gewesen war und wollte wissen:„Wie geht es deinem Bein? Lass mich mal schauen, bitte."
Damit kniete er sich vor mich hin, zog scharf seinen Atem ein und im gleichen Moment überfiel mich ein Schatten des Schmerzes im Unterschenkel. „Au! Hör sofort auf damit!", brüllte ich.
„Pssssst, sei leise sonst hören sie uns! Ich bin sowieso schon fertig. Schau dir das mal an. Diese Drecksschweine!"
Wutentbrannt hielt Flynn mir eine Nadel vor die Nase. „Weißt du, was da in deinem Bein gesteckt ist? Da war hundertprozentig ein Nervengift drin. Gottseidank sind wir in das Wasser gesprungen. Es hat die Wunde ausgewaschen. Ich will gar nicht daran denken, was da sonst passiert wäre! Das ist inzwischen sogar schon verboten, Nervengift zu benutzen. Ich fasse es nicht! Muss das nicht schrecklich weh getan haben?", er sah mich mit seinen durchdringenden Augen besorgt an.

„Doch, hat es", antwortete ich leise. Flynn nahm mich in den Arm. Vorsichtig. Zärtlich. Liebevoll.
„Ich glaube, wir müssen dann mal weiter", sagte Flynn rau. „ Geht es schon wieder bei dir? Sonst können wir auch gerne noch für diese Nacht hierbleiben."
„Ja, bitte machen wir das", antwortete ich erschöpft. Jetzt fühlte ich mich müde, zusammengeschlagen, kraftlos, ausgelaugt. Er nickte lächelnd und legte einen Arm unter meine Schulter, um mich zu stützen.

Wir fanden eine kleine, mit Flechten verborgene Höhle, in der wir unsere Decken ausbreiteten. Mit der einen Flasche Leitungswasser wusch Flynn mein Gesicht vorsichtig ab. Es stellte sich heraus, dass die Wunden nicht so schlimm waren, wie sie aussahen.
Nur Schürfwunden und Kratzer. Da es Nachmittag war und die Sonne noch freundlich schien, zogen wir uns bis auf unsere Unterwäsche aus und legten unsere Sachen zum trocknen in die Sonne. Außer sein t-shirt. Das benutzte ich als Filter, denn wir benötigten dringend Wasser und das des Gebirgs - Flusses war ziemlich dreckig. So blieben die ganzen Dreckklumpen im Shirt hängen und landeten nicht in der Wasserflasche.
Am Abend spielte ich noch einmal den ganzen Tag in meinem Kopf durch, während ich die Höhlendecke musterte. Ich war in ein Haus eingebrochen, von einer Horde erwachsener Männer gejagt worden und weggelaufen, mit Nervengift betäubt worden, über zwanzig Meter in einen Wildwasser - Strom gestürzt, beinahe ertrunken... Wenn jeder Tag so wie der heutige werden würde, musste ich mich auf einiges gefasst machen. Ich hörte Flynns regelmäßigen Atem und spürte seinen Arm, den er über meine Taille gelegt hatte. Jedes noch so schreckliche Ereignis hatte auch sein Gutes.

RUNAWAY (on hold)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt