14.Kapitel

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3 Monate später

Kritisch betrachtete ich mich in Sebastians großen Spiegel. Das regelmäßige Training mit ihm tat mir gut. Früher war ich von meinen Klassenkameraden immer gemobbt worden, weil ich schon immer ein bisschen pummelig gewesen war.
Aber als ich mich jetzt im Spiegel sah, fiel mir auf, dass ein Großteil des nervigen Babyspecks verschwunden war. Ich hatte mehr Muskeln aufgebaut und im Gesicht abgenommen. Natürlich hatte ich aber auch mehr ‚Makel' bekommen. Wenn Sebastian und ich gegen einander kämpften, dann taten wir das, als ob es Realität wäre. Sebastian war der Meinung, dass man nur so etwas lernte. Als wir Würgetechniken geübt hatten, lief ich eine ganze Woche lang mit Halsschmerzen herum. Aber als ich gejammert hatte, sagte er bloß mit einem Augenzwinkern: „Alles was nicht direkt zum Tode führt, ist Abhärtung."

Darauf hatte ich mir das Jammern dann verkniffen. Auch Sebastian blieb nicht unverschont, da ich, mit der Zeit zu einem durchaus ernst zu nehmenden Gegner gewachsen, ihm beim Boxen ein paar heftige Schläge mitgegeben hatte.

Ich lächelte und schlüpfte schnell in einen der Kapuzenpullis, die sich mit der Zeit in meiner Schublade seiner Kommode angesammelt hatten. In dem Zimmer gab es auch immer noch nur ein Bett, das wir uns teilten, da wir das beide nicht schlimm fanden. Ich mochte Sebastian echt gern, und ja - er ist süß, aber bei ihm konnte ich sein, was ich bei so vielen meiner früheren Freunde nicht sein konnte: ich selbst.
Ich hatte begonnen, Sebastian als eine Art Anführer zu sehen. Ich würde ihm vermutlich überall hin folgen, denn mit der Zeit, als er mich immer durch die Gänge führte und schützend über mir kauerte, hatte ich gelernt, ihm bedingungslos zu vertrauen.

Als es noch Herbst war, wanderten wir stundenlang umher, auf der Suche nach einer Stadt, in der wir Nahrungsmittel für fast 50 Menschen besorgen konnten. Dabei hatten wir uns ewig unterhalten. Sebastian war ein sehr guter Zuhörer. Sobald ich zu sprechen begann, fokussierte er mich, als ob ich der einzige Mensch auf der Erde wäre. Das war manchmal echt gruselig. Aber irgendwie gefiel mir das, weil ich mich dann...besonders fühlte.
Also herrschte bei mir auf jeden Fall Gefühlschaos.
Freundschaft oder doch mehr...?

Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, grinste mein Spiegelbild an und machte mich auf den Weg zum Eingang in die Kanalisation.
★★★
Als ich mir nun meinen Weg durch die schmalen, schlecht gefliesten Gänge bahnte, fiel mir auf, das ich Flynn seit einer Woche nicht mehr gesehen hatte.

Noch so ein Gefühlschaos.
Eine engere Beziehung hatte ich auf jeden Fall zu Sebastian, aber Flynn sah so verdammt gut aus...
Ich seufzte. Flynn und Sebastian konnten sich gegenseitig überhaupt nicht leiden. Als ich versucht hatte, sie anzufreunden, hatten sie sich nur kühl gemustert. Trotzdem waren sie sich so ähnlich. Manchmal sagten sie, ohne es zu wissen, genau das selbe zu mir.
Doch Flynn war so...anders geworden. Seit er mit den Jungs von der SOW abhing, hatte er sich extrem verändert. Er hatte sich sogar mit Nikolai angefreundet, was ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte.
Und mit Flynn konnte ich, anders als mit Sebastian, nicht ich selbst sein. Ich merkte es immer wieder, wenn ich ihm über den Weg lief. Alles war so angespannt zwischen uns. Wir unterhielten uns zwar, aber es war eben nur erzwungener Smalltalk.

„Hey!"
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Sebastian plötzlich auftauchte.
„Bist du schon fertig?", fragte ich ihn. Eigentlich wollte er noch kurz mit Jake sprechen.
„Ja, alles geklärt."
„Dann können wir los?"
„Jap."

Inzwischen macht mir der weg durch die Kanalisation nichts mehr aus, es macht mir sogar Spaß. Sebastian und ich haben ein Konditionstraining daraus gemacht. Wir joggen einfach den ganzen Weg, zum Schluss dann noch den Endsprint, und wer als erstes unter dem Gullideckel ist, hat gewonnen. Natürlich gewann meistens Sebastian, da viel längere Beine als ich hatte.

Aber trotzdem musste ich immer bei unserem Endsprint befreit lachen, vor allem wenn Sebastian mich an der Hand packte und mich hinter ihm herzog, sodass auch ich so schnell laufen konnte, wie er das tat. Das fühlte sich an sie fliegen.

★★★★★

E

s war eiskalt, als wir aus der dunklen Kanalisation heraus stiegen. Mein Atem kondensierte augenblicklich, und ich fing an zu zittern, obwohl ich gerade eine halbe Stunde gejoggt war.
„Oh, wow, wie kalt ist das denn?", fragte Sebastian überrascht, als auch er sich aus dem Gullideckel zog.
„-50 Grad?", schätzte ich trocken.
Er lachte, sah mich verschlagen an, und rief dann: „Also, ich bin so was von Erster!"
Damit sprintete er davon.
Empört holte ich tief Luft und rannte hinterher.

RUNAWAY (on hold)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt