10.Kapitel

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Auch diese Tür war aus Stahl.
Ich konnte nichts mehr hören.
Zum ersten mal in meinem ganzen Leben, verstand ich, was 'Tür' eigentlich bedeutete.

Früher hatte ich gedacht, eine Tür ist ein wichtiger Bestandteil der Privatsphäre. Wenn man eine Tür schließt, kann dich niemand mehr stören, da er nicht durchkommt.
Aber eine Tür kann auch sehr gefährlich sein, z.B. wenn man sie abschließt. Jetzt kann dich wirklich niemand mehr erreichen. Am Anfang genießt man 'allein sein' vielleicht noch, doch dann kommt die Einsamkeit. Und wenn du wieder zur Gesellschaft hinausgehen willst, stellst du fest, dass du den Schlüssel verloren hast. Jetzt sitzt man hinter dieser Tür.

So ähnlich ging es mir.
Mit einem Unterschied:
Ich wusste jetzt, was die Tür wirklich war.
Sie war ein Hindernis.
Sie ist immer eines.
Sie wird immer eins bleiben.
Ohne Ausnahme.

Du brauchst Kraft, um eine Tür zu öffnen. Vielleicht nicht unbedingt so viel physische Kraft.
Du brauchst psychische Kraft.
Man braucht Mut, um eine Tür zu öffnen, weil man nicht weiß, was dahinter ist, was dich erwartet. Türen sind auch schwer zu öffnen. Du brauchst fast immer einen einzigartigen Schlüssel. Du musst ihn in ihre einzige Schwachstelle stecken: Das Schlüsselloch.
Doch dazu musst du es ersteinmal finden.
Vielleicht ist es am besten, Menschen mit Türen zu vergleichen. Jeder Mensch hat eine Schwachstelle, ein Schlüsselloch. Solange man ihn nicht aufschließt, kann er dich täuschen. Er hat dich noch nicht hinein gelassen. Wenn er dir aber den Schlüssel gibt und du ihn öffnest und hinein gehst, kannst du ihn wirklich sehen.
Er kann dich dann nicht mehr so leicht täuschen. Er kann dir aber wieder seine Tür vor der Nase zuschlagen, wenn er sich fühlt, als ob du auch seine inneren und geheimsten Türen öffnen willst. Und ob du dann wieder so leicht sein Schlüsselloch findest, ist ungewiss.

Die dicke Tür zwischen Flynn und mir war ein großes Hindernis. Die Tür trennte uns ungewollt, und die Tür, die man von beiden Seiten aufschließen will...das geht nicht. Es gibt nur einen Schlüssel.

Ich glitt an der Tür entlang auf den Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich wusste nicht, wo der Schlüssel war. Ich konnte auch keine Schwachstelle, also das Schlüsselloch sehen. Es gab keines. Von innen auf jeden Fall. Aber Flynn war ja außen. Vielleicht konnte er die beiden Sachen finden.

Ich wartete. Und während ich das tat, weinte ich. Ich hatte seit ich ein kleines Kind gewesen war nicht mehr so geweint, wie ich es jetzt tat.
Flynn kam nicht.

„Hey, jetzt heul hier bloß nicht rum", sagte plötzlich eine schroffe Stimme vor mir. Ich wischte mir hastig die Tränen weg, beschämt. Ich sah jetzt wahrscheinlich gerade aus wie der lebende Tod. Meine Augen waren sicherlich ganz rot und ich hatte überall in meinem Gesicht rote Flecken, die erst nach einer halben Stunde verschwinden würden.

Ich blickte auf einen Mann, etwa so alt wie Jake und Max. Er hatte blonde, kurz geschnittene Locken und braune Augen. Skeptisch sah ich ihn an. Er würde mich wahrscheinlich auch gleich so blöd anmachen wie die anderen.

„Was machst du hier?", fragte er prompt, doch es hörte sich nicht so feindselig wie bei den anderen an.
Ich hielt seinem Blick stand und hielt trotzig meinen Mund. Ich wollte nicht mehr mit einen von ihnen sprechen.

Der Mann begann plötzlich zu lachen. „Bitte sprich mit mir. Du siehst gerade aus wie ein kleines, flauschiges Kätzchen, das denkt, es wäre ein Tiger." Er lachte noch mal.
„Jetzt sag schon, wie heißt du?"

Zweifelnd sah ich den Mann an. Seine Augen waren schlammbraun, aber trotzdem irgendwie schön. Vertrauenserweckend. Und jetzt, da er gelacht hatte, hatte er sogar Lachfältchen bekommen. Lachfältchen.

Und auf einmal musste auch ich lächeln.
„Wie heißt du?", fragte ich herausfordernd.
Er antwortete ohne zu zögern: „Ich bin Sebastian." Er streckte mir seine Hand entgegen.

Ich nahm sie und er zog mich nach oben.
„Ich bin Sal", sagte ich also, benutzte aber meinen Spitznamen.
„Cooler Name. Hab ich noch nie gehört."
Damit drehte er sich um und rief, ohne mich anzuschauen:„Komm und hilf mir in der Küche!"

Missmutig sah ich auf einen Berg Kartoffeln, die mir Sebastian zum schälen gegeben hatte. Ich war noch nie gut im Kochen gewesen und hatte eigentlich auch keine Lust, das zu lernen.
„Warum musst du hier eigentlich kochen? Warum darfst du nicht mit den anderen trainieren und für die SOW arbeiten?", fragte ich ihn neugierig.
Sebastian lächelte grimmig: „So schlau, wie du denkst, sind die nicht. Sie denken zwar, dass sie niemand täuschen kann, aber..."
Er ließ den Satz unbeendet.
„Du hast sie also angelogen", stellte ich nüchtern fest.
„Ja", sagte er einfach.
„Und sie haben dich nicht durchschaut?"
Langsam wurde Sebastian mir unheimlich.
„Bis jetzt noch nicht", sagte er und grinste mich teuflisch an.
„Ich will nicht für sie arbeiten. Sie sind hinterhältig, falsch und grausam. Vielleicht ist das richtige Wort ›skrupellos‹. Sie retteten mein Leben, so wie sie wahrscheinlich eures gerettet haben und nahmen mich mit. Sie wollten mich zu ihrem besten Kämpfer ausbilden. Auf jeden Fall war ich entsetzt von ihren Methoden, also hab ich ihnen etwas vorgespielt. Sie benötigen Kämpfer. Ich stellte mich so ungeschickt an, dass sie mich in die Küche schickten. Seitdem haben sie jeden Tag etwas gutes zum Essen." Er lachte bitter.
„Sie wissen bis heute nicht, dass ich seit 10 Jahren Kampfsport trainiere. Du siehst, auch die SOW kann man täuschen."

Ich schwieg ersteinmal und verarbeitete alle Informationen, die er mir gerade gegeben hatte.

Flynn.

Panisch fragte ich: „Werden sie Flynn wehtun?"
„Flynn? Ach, dein Freund. Wenn er sich gut anstellt, dann nicht", sagte er mit einem Schulterzucken. Augenblicklich war ich beruhigt. Flynn konnte das. Er war vielleicht nicht der beste Lügner, aber er konnte kämpfen. Er hatte auch den Chef im Camp überwältigt.

„Warum verachten sie Frauen?", bohrte ich weiter.
„Das ist schwierig. Ich glaube, dass sie sie nicht verachten, sondern sie einfach nutzlos finden. Sie wissen nicht, was sie mit ihnen tuen sollen, für was sie da sind. Deshalb benutzen sie sie zum ›Spaß haben‹." Eindringlich sagte er zu mir: „Bitte halte dich von den Männern fern. Ich meine das ernst. Du weißt nicht, zu was sie imstande sind. Du wirst keine Chance haben. Wenn du einen Mann siehst, versteck dich oder lauf so schnell wie möglich weg. Verstanden?"

Ich nickte. So etwas hatte ich schon vermutet. In diesem Moment hasste ich mich selbst dafür, dass ich eine Frau war. Ich hatte so wenig Kraft im Gegensatz zu den Männern. Für jeden würde es ein leichtes Spiel sein, mich, ein kleines, schutzloses Mädchen, zu benutzen. Jetzt saß ich auch noch unter der Erde fest, wo es von Männern wimmelte, die genau das wollten.

RUNAWAY (on hold)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt